Auf dem Medizinerkongress informierten sich Mediziner über Studien und neue Entwicklungen auch in der Jugendpsychiatrie.

Stuttgart - Das Mädchen ist zehn Jahre alt und geht in die vierte Klasse. Sie ist eine sehr gute Schülerin sagen die Lehrer und die Mutter freut sich. Die Zehnjährige habe zwar wenige Freundinnen, aber sonst sei alles in Ordnung, versichert die Mutter als sie mit ihrer Tochter zum wiederholten Mal wegen extremen Schwindelanfällen in die Klinik kommt. Doch organisch hat die Schülerin nichts und so wurde sie Patientin von Sibylle Winter in der Kinderpsychiatrie an der Berliner Charité. "Das Mädchen hat sich kaum mitgeteilt. Es war sehr fixiert auf die Mutter, die sich eine psychosomatische Störung bei ihrer Tochter gar nicht vorstellen konnte. Der von der Familie getrennt lebende Vater konnte mit den Problemen gar nichts anfangen", schilderte Winter einen ihrer Fälle beim Seminar "Angst und Depressionen im Kindes- und Jugendalter" beim Stuttgarter Medizinerkongress.

Das in sich gekehrte Mädchen zeigte erstmals eine positive Reaktion, als sie die Chance hatte, in die Tagesklinik aufgenommen zu werden und damit die dortige Schule zu besuchen. Das Thema Schulangst sei schwierig zu fassen, erklärte Winter. Es gebe zu viele Facetten und die Ausprägungen seien ganz unterschiedlich. Zudem werde der Lebensraum Schule von den Erwachsenen oft unterschätzt, doch er habe den gleichen Stellenwert wie das berufliche Umfeld von Mutter und Vater.

Schulangst kann physische Folgen haben


Die Angst vor der Schule führt nicht automatisch zu einer Schulphobie, bei der sich das Kind weigert etwa mit Hilfe morgendlicher Übelkeit, Kopfweh oder Bauchschmerzen das Haus zu verlassen. Vielmehr äußert sich die Schulangst häufig in psychosomatischen Beschwerden, wie etwa Schwindel oder Bauchschmerzen. "Doch die Angst ist ein Tabuthema. Niemals würde das Kind von sich aus über seine Ängste sprechen", weiß die Psychotherapeutin aus langjähriger Erfahrung. Als Arzt sei es wichtig die körperlichen Beschwerden ernst zu nehmen, da sich das Kind samt den Eltern sonst nicht angenommen fühle. Relativ schnell müsse man organische Ursachen ausschließen und möglichst auch mit den Lehrern sprechen. Falsch sei es, das Kind länger krankzuschreiben: "Die psychosomatischen Beschwerden und die Angst werden zu Hause immer schlimmer. Im Schulalltag verschwinden sie eher wieder". Als Therapie rät Winter zur Psychotherapie, wobei es hier viele Möglichkeiten gibt, wie etwa die Verhaltens- oder Familientherapie. Von einer medikamentösen Behandlung rät sie eher ab, zu hoch sei die Suchtgefahr. Die Gründe für die Angst vor der Schule sind vielfältig: Der Leistungsdruck der Lehrer, die nicht angemessene Erwartungshaltung der Eltern, Streit mit Mitschülern, Konkurrenzkampf in der Klasse oder unter Geschwistern - die Liste ließe sich lange fortsetzen.

Unerkannt kann die Schulangst in eine Depression münden. Immerhin sind zwei Prozent der Kinder und fünf bis zehn Prozent der Jugendlichen depressiv. Oft wird eine chronische Erkrankung von Depressionen begleitet. "Die Mehrzahl der jungen Patienten mit Leukämie, Mukoviszidose, Diabetes oder Morbus Crohn kommen mit den extremen Belastungen gut zurecht. Doch es gibt Kinder oder auch Geschwisterkinder, die aufgrund der chronischen Belastung eine Depression entwickeln", berichtete Michael Günter, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Tübinger Uniklinik. Für chronisch kranke Jugendliche werde es schließlich schwieriger, erklärte Günter an einem Beispiel: Ein durch Morbus Crohn geschwächter, sehr schmächtiger Junge wird sich als Pubertierender schwer tun, ein Mädchen anzusprechen, das ihn möglicherweise auslachen würde. Der Junge macht sich ein schreckliches Bild von seinem Inneren, sein Selbstwertgefühl rutscht in den Keller. Auch ein asthmatischer oder zuckerkranker Jugendlicher wird mit seinem Schicksal hadern, wenn er das Feiern mit Freunden mit lebensbedrohlichen Rückfällen bezahlen muss. Auch die Eltern dieser Kinder haben Probleme, sie loszulassen. Oft herrschen Schuldgefühle vor. "Diese Familien haben kaum soziale Kontakte", sagte Günter. Hier seien Selbsthilfegruppen sehr wichtig. Und auch hier gelte: Depressive Kinder oder Jugendliche sprechen nicht über ihre Probleme. "Alles halb so schlimm", laute oft die lapidare Auskunft. Daher gelte für Ärzte und Angehörige: Genau hinschauen.