Auch das gibt es in Stuttgart: Landleben in der Stadt. Philipp Obergassner hat für die Wohnzimmer-Serie Annette de Pay besucht. Die 27-Jährige wohnt und arbeitet auf dem Möhringer Reyerhof – Wand an Wand mit den Kühen.

Stuttgart - Am Wochenende wird die Melkmaschine zum Wecker. Pünktlich um 6.45 Uhr fängt sie an zu surren. „Spätestens dann bin ich wach“, sagt Annette de Pay. Doch es ist eine Feststellung, keine Klage. Die 27-Jährige ist seit anderthalb Jahren Mitarbeiterin auf dem Reyerhof in Möhringen, einem der wenigen landwirtschaftlichen Betriebe, die noch innerhalb des Stadtgebiets Stuttgarts stehen und produzieren.

 

Ihr Schlafzimmer liegt an der Außenwand des alten Bauernhauses, auf der anderen Seite mampfen zehn große und wohlgenährte Kühe in einem halb überdachten Stall ihr Stroh. Da das etwa 500 Jahre alte Haus sehr hellhörig ist, bekommt Annette de Pay die meisten Regungen der Vierbeiner mit: Wenn sie trinken, Wasser lassen oder ihre Brunftschreie ertönen. „Nur wenn alle trächtig sind, dann herrscht Ruhe“, sagt sie schmunzelnd.

„Heute kennt das keiner mehr“

Annette de Pay machen die tierischen Geräusche aber nichts aus. Sie ist auf einem Bauernhof groß geworden, hat Agrarwirtschaft studiert und hat nach einem Praktikum auf dem Reyerhof vom Landwirt eine Stelle angeboten bekommen. „Sie hat sich damals schon beim Melken gut angestellt, das hat uns gefallen“, sagt Christoph Simpfendörfer, der zusammen mit seiner Frau und acht Mitarbeitern den etwa 1000 Quadratmeter großen Hof betreibt. Heute Vormittag hat er mit seinen Mitarbeitern auf dem angrenzenden Feld Lauch gepflanzt. „Wir hatten unerwartet gutes Wetter“, sagt er.

Simpfendörfer sieht es als seine Aufgabe, den Bewohnern Möhringens die Landwirtschaft wieder näher zu bringen. „Früher hatte jeder direkten Kontakt zu Bauernhöfen, heute kennt das niemand mehr“, sagt er. Der 54-jährige Agraringenieur hat den Betrieb an die Anforderungen eines Bauernhofs mitten in der Stadt angepasst: In einem Hofladen verkauft er eigene Produkte, zum Beispiel auch selbst gemachtes Speiseeis, es gibt Hof-Führungen für Schulklassen und der Innenhof ist frei zugänglich für alle. Für viele Möhringer Familien gehöre beim sonntäglichen Spaziergang der Besuch der Kühe mittlerweile einfach dazu, erklärt der Landwirt.

Mitarbeitertoilette statt Plumpsklo

Simpfendörfer hat selbst 25 Jahre in dem Bauernhaus gewohnt, das 1650 auf einer alten Möhringer Karte noch als Aussiedlerhof auftaucht. Seit zwei Jahren wohnt er in einem neu gebauten Haus nebenan. Doch das alte Bauernhaus ist ebenfalls gut in Schuss und bei aller Zünftigkeit auch auf dem neuesten Stand der Technik. Neben dem eingebauten Kachelofen in der Küche steht ein Elektroherd mit Abzugshaube. Braune Flecken auf den weißen Kalkfließen zeugen von dem Holzherd, der früher dort stand. 1978 wurde das Haus von Grund auf renoviert: „Da sind noch alte Stroh- und Lehmwände hervorgekommen“, erzählt Simpfendörfer.

Mit der Renovierung hielt die Moderne Einzug ins Haus: Toiletten und Duschen wurden eingebaut. Da wo vorher das Plumpsklo war, in einer Kammer vor der Haustüre, kam die Mitarbeitertoilette hinein. Und in dem alten Gewölbekeller, in dem früher Rüben für das Vieh gelagert wurden, stehen jetzt die Tiefkühltruhen für das Speiseeis. Auch andere moderne Annehmlichkeiten wie Spülmaschine, Telefon oder Internet sind in dem Haus im Möhringer Westen selbstverständlich.

Der Geruch von Holz

Nur beim Handyempfang wird Annette de Pay immer wieder daran erinnert, dass sie in einem Altbau wohnt: „Der ist teilweise so schlecht, dass ich mich schon ans Fenster drängen muss“, sagt sie. Aller Technik zum Trotz verleiht der kernige Geruch von Holz in der Wohnung dem Haus eine zünftige Note. Die Möbel im gemeinsamen Esszimmer – dem Mittelpunkt des Hauses – sind aus unbearbeiteten Holzdielen gezimmert.

Dort versammeln sich Annette de Pay und die anderen Mitbewohner jeden Vormittag und jeden Mittag zum gemeinsamen Essen. Die Wohngemeinschaft könnte kaum bunter gemischt sein: derzeit wohnen zwei Waldorfschüler dort, ein Pädagogik-Student, der wochenends auf dem Hof mithilft, ein rumänischer Erntehelfer, zwei Kinder, die Mitarbeiter auf dem Hof, darunter Annette de Pay, sowie eine Musikerin, die das Lehrlingszimmer zur Zwischenmiete bezogen hat. Die Bewohner kämen gut miteinander aus, sagt Annette de Pay. Ihr Chef fügt augenzwinkernd noch hinzu: „Das muss man auch, denn hier ist alles etwas eng und hellhörig.“