Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Im Januar erwägt Schiefelbein, Garabed wieder nach Hohenasperg einliefern zu lassen. „Aber die haben gesagt, nach ärztlicher Einschätzung reichen die Maßnahmen in Ulm aus.“ Niemand sieht jemals Anlass, den auffälligen Häftling in die videoüberwachte Notfallzelle zu verlegen. Dafür darf Garabed eine Jogginghose tragen, in deren Bund eine Kordelschnur steckt.

 

Im Besprechungsraum seiner Anwaltskanzlei über den Dächern Ulms hört der grüne Landtagsabgeordnete Jürgen Filius davon mit Verwunderung. „Das soll natürlich nicht sein“, sagt er über die Jogginghose. Zum ersten Mal erfährt der Abgeordnete von dem Drama unweit seiner eigenen Bürotür, und das, obwohl er als Strafvollzugsbeauftragter seiner Fraktion ausdrücklich zuständig ist für die Situation in den Gefängnissen des Landes. Der Fall weckt in ihm unangenehme Erinnerungen.

2010 hat Filius selber einen 20-jährigen Mandanten in der Ulmer JVA durch einen Suizid verloren. Der vorbestrafte Mann hatte sich gleich in der Nacht nach seiner Einlieferung mit einem Schal am Gitter des Zellenfensters erhängt. Auch in diesem Fall habe das Umfeld von den Selbstmordabsichten gewusst, sagt Filius. So etwas sei immer eine Niederlage für das ganze Vollzugssystem. „Der Entzug der Freiheit ist der größte Eingriff, den ein demokratischer Staat einem Menschen antun kann“, erinnert er. Daraus erwachse eine besondere Fürsorgepflicht.

Eine Psychose entwickelt sich

In der zweiten Januarwoche besucht Anwalt Rung seinen Mandanten zum letzten Mal. Er erlebt, wie Arman Garabed davon redet, dass er bedroht werde. „Dann hat er gesagt, er habe manchmal das Gefühl, der Boden komme ihm entgegen.“ Rung verspricht, sich um eine Verlegung in ein anderes Gefängnis zu bemühen. Als er gehen muss, bettelt Garabed, er wolle sofort mitgenommen werden.

Erste Anzeichen einer Depression

Dem Häftling wird für den anstehenden Prozess wegen Drogenvergehen der Ravensburger Strafverteidiger Uwe Rung beigeordnet. Anfangs, erinnert sich Rung, habe sein Mandant bei den wöchentlichen Besuchen keine Auffälligkeiten gezeigt. Mit ein bisschen Glück, möglicherweise bei einer Strafverkürzung wegen guter Führung, so haben sie erörtert, könnte Garabed nach gut einem Jahr wieder auf freiem Fuß sein.

Doch ab November zeigt der 38-Jährige Anzeichen von Depressionen, hat Nervenzusammenbrüche, sagt, dass er das alles nicht mehr aushält. Auch die Ehefrau ist bestürzt. „Er hat gesagt, dass er sich schämt, dass er bereut und dass er Angst hat.“ In der armenischstämmigen Familie gilt die Ehre alles. „Junge“, sagt Garabeds Vater Narek bei einem Haftbesuch einmal, „du bist ein starker Mann. Halt durch.“ Niemand ahnt, dass eine Schussfahrt in den Tod ihren Anfang genommen hat.

Der Häftling fleht seinen Anwalt an, ihm zu helfen

Der Untersuchungshäftling beginnt, fast täglich seinen Anwalt auf dessen Notfallhandy anzurufen, fleht, aus der Zelle geholt zu werden. Am 21. November schreibt der zunehmend beunruhigte Rung einen Brandbrief an die Justizvollzugsanstalt: Garabed mache auf ihn einen „wirklich absolut desolaten und dekompensierten Eindruck“; er bitte, den Mandanten schnellstmöglich ins Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg zur psychiatrischen Begutachtung zu verlegen.

Die Ulmer Gefängnisleitung zögert nicht, sie hat den Mann ihrerseits schon als selbstmordgefährdet eingestuft, ihm gefährliche Gegenstände wie Gürtel, Schnürsenkel oder Nagelschere abgenommen und ihn in eine Drei-Mann-Zelle verlegt. Beamte im Vollzug werden geschult im Umgang mit labilen Gefangenen. Das Merkblatt „Suizidgefährdete Gefangene“, verfasst vom Ärztlichen Direktor in Hohenasperg, Hans-Eugen Bisson, gibt Handlungshilfen für den Arbeitsalltag. Darin heißt es, zu Suiziden käme es gehäuft „kurz nach der Inhaftierung, insbesondere in der Untersuchungshaft“. Selbsttötungen würden überwiegend „nachts zwischen 20 Uhr und 6 Uhr“ begangen. Ein roter Punkt an der Zellentür, hinter der Garabed sitzt, erinnert alle Vollzugsbeamten im Schichtdienst an die Gefährdung des Insassen.

Wie viel ärztliche Überwachung wäre nötig gewesen?

Nach einer Woche Aufenthalt in Hohenasperg kehrt der 38-Jährige zurück nach Ulm. Die Darstellungen über den Behandlungserfolg gehen auseinander. JVA-Chef Schiefelbein sagt, der Häftling sei in einem „stabilen physischen und psychischen Zustand“ zurückgekommen. Verteidiger Rung hat eine andere Wahrnehmung: „Er hatte sich der Behandlung in Hohenasperg verweigert.“ Wenn das stimmt, hätte Garabed überhaupt entlassen werden dürfen?

Das Justizministerium gibt dazu die Allgemeinauskunft, Zwangsmaßnahmen des Justizvollzugs im Gesundheitsbereich seien „sehr selten“ und „nur in engen Grenzen möglich“. Einem Patienten beispielsweise zwangsweise eine Tablette zu verabreichen sei laut Gesetz „nur bei Lebensgefahr“ oder bei „schwerwiegender Gefahr“ für andere zulässig. Solange von der „freien Willensbestimmung“ eines Gefangenen ausgegangen werden könne, sei eine Justizvollzugsanstalt außerdem nicht verpflichtet, Zwangsmaßnahmen anzuordnen.

Der Häftling magert stark ab

Das Ulmer Gefängnis hat keine eigene Krankenstation, Belegärzte erscheinen auf Anforderung. Ein Arzt gibt an Garabed mindestens einmal das Beruhigungsmittel Tavor aus. Ob der Gefangene es nimmt, ist unklar. Die Krisen des Häftlings setzen verstärkt wieder ein. Der einstmals 90 Kilo schwere Mann ist um etwa 20 Kilogramm abgemagert.

Vielleicht hätte es seinem Mandanten helfen können, tagsüber zu arbeiten, sagt Rung. Aber im dezentral gelegenen Ulmer Untersuchungsgefängnis geht das nicht. Wegen der „personellen Struktur“ könne man, mit Ausnahme weniger Reinigungstätigkeiten, keinen Arbeitsbetrieb anbieten, sagt Leiter Schiefelbein. Im Regelstrafvollzug gibt es Werkstätten, doch Beamte, die Untersuchungshäftlinge durch die Stadt begleiten, fehlen.

Der Gefangene darf die Kordel in seiner Jogginghose behalten

Im Januar erwägt Schiefelbein, Garabed wieder nach Hohenasperg einliefern zu lassen. „Aber die haben gesagt, nach ärztlicher Einschätzung reichen die Maßnahmen in Ulm aus.“ Niemand sieht jemals Anlass, den auffälligen Häftling in die videoüberwachte Notfallzelle zu verlegen. Dafür darf Garabed eine Jogginghose tragen, in deren Bund eine Kordelschnur steckt.

Im Besprechungsraum seiner Anwaltskanzlei über den Dächern Ulms hört der grüne Landtagsabgeordnete Jürgen Filius davon mit Verwunderung. „Das soll natürlich nicht sein“, sagt er über die Jogginghose. Zum ersten Mal erfährt der Abgeordnete von dem Drama unweit seiner eigenen Bürotür, und das, obwohl er als Strafvollzugsbeauftragter seiner Fraktion ausdrücklich zuständig ist für die Situation in den Gefängnissen des Landes. Der Fall weckt in ihm unangenehme Erinnerungen.

2010 hat Filius selber einen 20-jährigen Mandanten in der Ulmer JVA durch einen Suizid verloren. Der vorbestrafte Mann hatte sich gleich in der Nacht nach seiner Einlieferung mit einem Schal am Gitter des Zellenfensters erhängt. Auch in diesem Fall habe das Umfeld von den Selbstmordabsichten gewusst, sagt Filius. So etwas sei immer eine Niederlage für das ganze Vollzugssystem. „Der Entzug der Freiheit ist der größte Eingriff, den ein demokratischer Staat einem Menschen antun kann“, erinnert er. Daraus erwachse eine besondere Fürsorgepflicht.

Eine Psychose entwickelt sich

In der zweiten Januarwoche besucht Anwalt Rung seinen Mandanten zum letzten Mal. Er erlebt, wie Arman Garabed davon redet, dass er bedroht werde. „Dann hat er gesagt, er habe manchmal das Gefühl, der Boden komme ihm entgegen.“ Rung verspricht, sich um eine Verlegung in ein anderes Gefängnis zu bemühen. Als er gehen muss, bettelt Garabed, er wolle sofort mitgenommen werden.

Im Faltblatt des Justizministeriums steht, die Suizidgefahr steige oft „an Geburtstagen, auch und besonders von Familienangehörigen“. Am 13. Januar hat der älteste Sohn von Arman Garabed Geburtstag. Der Vater will den Sohn nicht sehen. Am 14. Januar schaut er mit seinen Mitgefangenen spätabends noch Fernsehen. Einer der Männer legt sich gegen 1 Uhr schlafen, der andere gegen 1.30 Uhr. In dem Haftraum, der den Grundriss eines L hat, belegt Garabed – ausgerechnet – das allein stehende Bett unter dem Fenster. Gegen 2 Uhr, so wird später rekonstruiert, schlingt der Häftling sein Bettlaken zu einem Seil. Er kippt das Fenster nach innen und knotet das Laken an einen Gitterstab. Aus dem Bund der Jogginghose zieht er die Kordel und fesselt damit seine Hände. Dann lässt er sich in die Schlinge fallen.

Die Ehefrau soll sofort über eine Organspende entscheiden

Etwa 20 Minuten später wacht einer der Mithäftlinge auf, er muss auf die Toilette. Alarm wird gegeben, ein Vollzugsbeamter reißt die Tür auf, reanimiert den 38-Jährigen, bis ein Arzt eintrifft. Am Tag darauf wird die Familie in die Universitätsklinik Ulm gerufen. Garabed ist an ein Beatmungsgerät angeschlossen, wird künstlich beatmet und ernährt. Der Ehefrau wird eine sofortige Organspende nahegelegt. Der Patient sei hirntot, lautet die Diagnose. „Ich konnte das nicht sagen: schaltet ab“, erinnert sie sich. „Ich habe doch immer noch Hoffnung.“

Sie hat inzwischen Sozialhilfe beantragt. Vorher bekundeten Behörden auf ihre Weise Anteilnahme. Am 31. Januar, keine drei Wochen nach dem Drama, schickt die Kreisverwaltung Ravensburg der Frau einen Zahlungsbescheid in Höhe von knapp 60 000 Euro. Wegen des im Bankschließfach gefundenen Geldes soll sie sämtliche Sozialleistungen von 2005 bis 2012 zurückzahlen. Einen Tag später schickt das Finanzamt Post. Die Umsatzsteuer 2012 aus der Autohandelsfirma wird verlangt und vorsorglich auf gut 8000 Euro geschätzt. Das Landgericht Ravensburg hebt den Haftbefehl gegen den Komapatienten „in Ermangelung einer Fluchtgefahr“ auf, lässt das Verfahren aber nicht fallen. „Warum, das weiß ich nicht“, sagt Anwalt Rung. „Vermutlich geht es um die Verteilung des beschlagnahmten Geldes“. Gegenüber der Staatsanwaltschaft macht das Finanzamt schriftlich sein Vorgriffsrecht auf die Summe geltend.

Die Ärzte in Wangen wollen noch kämpfen

Ein sanfter, rötlicher Schein von Winterabendsonne färbt die schneeweiße Hügellandschaft um Wangen. Das Fenster des Krankenzimmers, in dem Arman Garabed liegt, sieht aus wie ein Kitschposter. Hier hat die Familie Ärzte gefunden, die um den 38-Jährigen zumindest noch eine Weile kämpfen wollen. Jeden Tag fährt Armans Vater Narek in seinem kleinen Daihatsu 50 Kilometer zur Klinik.

Er kennt nicht das Merkblatt des Justizministeriums. Darin steht unter dem Punkt „Verhalten nach erfolgtem Suizid“ die Anweisung: „Keine Schuldzuweisungen“. Er tupft seinem Sohn den Mund ab, streicht über die Wangen und die schlaffen Arme, liest in einer Bibel. „Warum?“ fragt er immer wieder leise, lauscht in die Stille und spürt in der eigenen Brust, wie das Herz gegen den Verstand rebelliert.