Retromodern und hochgradig tanzbar: Die Pet Shop Boys glänzen mit einem exzellenten und nur vermeintlich überraschungsarmen Elektro-Album. -

London - Einen Moment lang stutzt man. Ist „Super“ tatsächlich erst die 13. Platte der Pet Shop Boys? Eigentlich fühlt sich das neue Album von Neil Tennant und Chris Lowe eher an wie das dreißigste Werk ihrer Laufbahn. Aber so ist das eben mit den Elder Statesmen der britischen Musikszene: Seit seinem Karrierebeginn hat das Duo seinen Synthiesound nach und nach zu einem popkulturellen Gebrauchsgegenstand modelliert, der mittlerweile nach dem „iPhone-Prinzip“ funktioniert. Auch bei dem hat man längst aufgehört zu zählen, die wievielte Generation gerade in die Läden kommt. Es ist einfach da, und es ist inzwischen ebenso sehr Alltagsprodukt wie Lifestyle-Tool.

 

Bedenkt man allerdings, wie dramatisch sich eben jener Lifestyle seit 1986 geändert hat – das Jahr, als die Pet Shop Boys die Popbühne betraten –, dann müssten die Herren Tennant (geboren 1954) und Lowe (Jahrgang 1959) längst auf dem Altenteil der Musikgeschichte gelandet sein. Doch das Gegenteil ist der Fall. Okay: „Super“ ist nicht der heißeste Stoff des Jahres 2016 – die Avantgarde aus dem Dancefloor-Underground klingt dunkler, popferner, abstrakter, destruktiver. Und selbstredend sind die Pet Shop Boys nach über 100 Millionen verkaufter Platten und Top-10-Hits dutzendweise längst Mitglieder des musikalischen Establishment – aber sie sind es auf eine Art und Weise, die an das Stammpublikum des Berliner Technoclubs Berghain erinnert (einer Location, in der die beiden Briten übrigens immer mal wieder anzutreffen sind). Gar nicht wenige der dort wochenends ravenden Damen und Herren arbeiten nämlich von Montag bis Freitag als Rechtsanwälte oder Immobilienmakler – um dann bis Montag morgen in ihr Paralleluniversum abzutauchen, das sie aus ihrer Jugendzeit kennen. Das Wochenende kommt – und das Bürgertum der @-Generation feiert zusammen mit der digitalen Bohème die „Raveolution“.

Wie im Berliner Club Berghain

Auch „Super“ hat seine Berghain-Momente, und sie sind sogar verblüffend zahlreich. „Burn“ etwa ist solch ein Track, der nicht auf Radio-, sondern auf pure Dancefloor-Präsenz aus ist. Auch „Groovy“ mit hart angeschlagenem House-Piano sowie „Pazzo“, ein kurzes Rhythmus-Monster mit schrägen Heulbojen-Synthies, sind purer Tanzstoff.

Und dann ist da die andere Seite von „Super“. Man nehme „The Pop Kids“, die erste Single des Albums: Intro, schmeichlerische Synthiepopkulisse – alles überraschungsarm. „We are the Pop Kids, we love the Top Hits“, singt Tennant nach 52 Sekunden, und beim ersten Hören denkt man noch: „Naja, die haben auch schon mal anspruchsvoller gereimt“. Dann brüht man sich eine Tasse Tee auf und wenn man zurückkommt, bemerkt man erst, was man in der Zwischenzeit vor sich hingesummt hat: „We are the Pop Kids, we love the Top Hits“. Touché – der nächste Ohrwurm von Tennant und Lowe, die sich wieder in die Züchter von hochgradig infektiösen Pop-Ohrwürmern Marke „It’s Sin“ oder „Domino Dancing“ verwandelt haben. Von ähnlichem Kaliber: „Twenty-something“, das dem Hörer mit absichtsvoll dünnen Beatbox-Rhythmen und einer kleinen, nach einer Play Station Baujahr 1994 klingenden Keyboardmelodie ziemlich dreist auf der Nase herumtanzt. Fast am krassesten: „Happiness“, in dem eine kinderliedhafte Tonfolge von fies technoidem Elektrolärm aufgemischt wird. Als Designer von subversiven digitalen Soundscapes sind Tennant und Lowe mittlerweile ebenso versiert wie als Architekten von melodienprächtigen Pophymnen – und manchmal sind sie beides gleichzeitig.

Eine Verbeugung vor Kraftwerk

Dazu eine Verbeugung vor den deutschen Elektropop-Göttern Kraftwerk („Inner Sanctum“) und zwei jener typisch elektronischen Balladen („Sad Robot World“, „The Dictator decides“), in denen Tennant als melancholischer Pop-Crooner quasi zwei Schritte zurücktritt und uns vordergründig feierwütigem, aber im Inneren schwermütigen Partyvolk ein Stück formvollendete Zivilisationskritik spendiert – fertig ist ein listiges Feuerwerk an retromodernem, dancefloortauglichem Pop, befeuert von Trance und House und produziert an der Schnittstelle zwischen Mainstream und Subkultur von Stuart Price, der schon Madonna und The Killers betreute.

Wäre da nicht Neil Tennant mit seinem distinguierten Gentleman-Gesang – man könnte glauben, zwei Mittdreißigern zuzuhören, die mit ihren Notebooks die Szeneclubs zum Tanzen bringen. Dabei handelt es sich um zwei um die sechzig Jahre alte Herren, die Ende Juli sogar das ehrwürdige Londoner Royal Opera House bespielen werden. Verkehrte Welt? Kein bisschen: Ob Berghain oder Covent Garden – der Pop der Pet Shop Boys ist Musik für die ganz große Bühne, heute wie vor dreißig Jahren.