Sidi Larbi Cherkaoui erzählt beim Tanzfestival im Theaterhaus von der Tango-Faszination, die New Yorker Gruppe Gallim Dance von der Macht der Gefühle.

Stuttgart - Glieder umschmeicheln sich, Unterschenkel züngeln, Fußspitzen liebkosen einander: Der Tango Argentino ist die getanzte Umarmung von Mann und Frau – eine Welle der Emotionen, von der sich zwei Körper, in synchroner Bewegung vereint, hinwegtragen lassen. Es verwundert nicht, dass Sidi Larbi Cherkaoui gerade diesem Tanz verfallen ist: Der von Publikum und Kritik gefeierte flämisch-marokkanische Choreograf huldigt in seinen Kreationen dem „Flow“, dem Bewegungsfluss des Körpers.

 

Im Frühjahr hatte das Tanzpublikum Gelegenheit Cherkaoui mit dem „Feuervogel“, seinem Beitrag zum Strawinsky-Abend des Stuttgarter Balletts, kennenzulernen. Nun hat er das „Colours“-Tanzfestival mit „Milonga“ bereichert. Am Mittwoch ließen zehn argentinische Tango-Virtuosen und zwei zeitgenössische Tänzer mit ihrer Glut die Temperaturen im Theaterhaus um ein paar Grad ansteigen.

Milonga ist zum einen eine schnellere Urform des Tango, zum anderen nennt man so einen Tangoabend. Cherkaouis „Milonga“ erzählt von der Faszination dieses Tanzes, der in Buenos Aires zum Alltag gehört wie Wasser und Brot. Mit auf einen Vorhang projizierten Stadtimpressionen holt der Choreograf die Allgegenwart des Tangos in seinen unzähligen Facetten in den Saal; man sieht Paare, Wange an Wange, alt, jung, klein, dick, arm, reich, zur Masse vervielfältigt im Ballroom, in den Bars oder gar auf einer Stadtwiese. Dann wiederum schieben die Tänzer Pappfiguren auf die Bühne, die an die großen Legenden erinnern, aber auch Zuschauerkulisse sind: Sehen und Gesehen werden, auch das gehört zum Tango.

Aggression und Leidenschaft

Episodenhaft evozieren die sechs Paare, in unterschiedlichsten Konstellationen, Trauer und Komik, Aggression und Leidenschaft und illustrieren ihre Persönlichkeiten; in umwerfender Perfektion – für die sie immer wieder Zwischenapplaus erhalten – absolvieren sie mal spritzige, mal verspielte Bein-Hakeleien, rasante Drehungen und spektakuläre Hebungen, deren Luftakrobatik an den Eiskunstlauf erinnert.

Aber Cherkaoui wäre nicht Cherkaoui, wenn er das Tango-Vokabular nicht mit den Mitteln des zeitgenössischen Tanzes variieren würde. Er erweitert die Intimität der Paare zu einer Menage à trois auf, lässt ein reines Männertrio voller Anmut seine Virilität feiern, ordnet fliegenden Partnerwechsel an – beim traditionellen Tango undenkbar. Dann überträgt er das zentrale Spiel der Beine auf die oberen Gliedmaßen: Flüsternd, innig halten Hände und Arme Zwiesprache. Es sind diese – allerdings eher sparsam eingeflochtenen – hochästhetischen Passagen, die den größten Nachhall erzeugen, weil sie Cherkaouis Kunst belegen, die unterschiedlichen kulturellen Codes zu etwas großartigem Neuem zusammenzuführen.

Gallim Dance erzählt von der Macht der Gefühle

Freude, Wut, Scham, Verlegenheit: Manche Gefühle lassen sich nicht verbergen. Wenn Wangen und Stirn hellrosa bis tomatenrot leuchten, hilft eben auch die beste Schminke nichts. In „Blush“, dem furiosen Stück des New Yorker Ensembles „Gallim Dance“, setzen sich sechs Tänzerinnen und Tänzer auf genuine Weise mit dem völligen Kontrollverlust über den eigenen Körper auseinander.

Erinnerung an einen Boxring

Im ersten Bild, einem atemberaubend schönen Herrensolo, ist diese Kontrolle noch vorhanden. Im Inneren eines mit weißem Klebeband auf dem Bühnenboden abgegrenzten Quadrats, das entfernt an einen Boxring erinnert, steht der hünenhafte Tänzer einsam und verloren. Zur organischen Melodie einer Akustikgitarre, unterlegt mit knarzigen Breakbeats, bewegt er sich wie ein Zwitterwesen aus Insekt und Roboter. Kantig ausgeführte Isolationen von Schultern, Händen und Nacken verlaufen immer fließender, ein ständiger Wechsel von Innehalten und Sich-gehen-Lassen. Es geht um die Sehnsucht nach einem Partner, mit dem man sich austauschen, messen und verbünden kann, aber auch um die Furcht, sich vor dem anderen zu entblößen. Unberechtigt ist diese Sorge jedenfalls nicht, denn die Begegnung zwischen drei Frauen und drei Männern im zweiten Bild verläuft nicht gerade harmonisch.

Mit ihren weiß getünchten Körpern und den schwarzen Kostümfetzen, die sie am Leib tragen, wirken diese Gestalten fast geisterhaft, ihre Bewegungen spinnenartig tastend, manchmal bis ins Extrem verlangsamt. Der Charakter der Choreografie von Andrea Miller ist vollkommen eigenständig und lässt sich nur schwer mit bekannten Stilrichtungen vergleichen. Die eigentümliche Ästhetik schwankt zwischen aggressiver Wildheit und artifizieller Strenge. Andrea Miller inszeniert zum Beispiel erbitterte Auseinandersetzungen, in denen sich zwei Tänzerinnen im Kreis umzingeln, sich gegenseitig an die Gurgel gehen, dann aber in einer synchronen Sequenz zueinanderfinden. Vor allem die beiden Bilder über die Liebe und die Freude bleiben lange im Gedächtnis haften. Zu Arvo Pärts „Fratres“ rangeln zwei Tänzer miteinander, kämpfen um Unabhängigkeit, kommen sich aber doch immer näher, bis sie, völlig miteinander vertraut, ihre Körper aneinander pressen.

Wenn sich das Ensemble dann zur überschwänglich optimistischen Hymne „I´ll believe in anything“ der Band Wolf Parade austobt, wird klar, wie gut es tut, alle Hemmungen fahren zu lassen. Rot zu werden, ist nämlich gar nicht so schlimm.