Wie wirken die Ereignisse der RAF-Zeit heute nach? Dazu die Sichtweise von Kurt Breucker, der jüngste von fünf Richtern, die am Baader-Meinhof-Prozess beteiligt waren.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)
Stuttgart – Am 21. Mai 1975 begann in Stuttgart-Stammheim der Prozess gegen vier Anführer der Roten-Armee-Fraktion: Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe. Kurt Breucker war der jüngste von fünf an dem Verfahren beteiligten Richtern. Heute ist er 78 Jahre alt, wohnt noch im selben panzerverglasten Möhringer Haus wie damals und hält als Pensionär Vorträge über die RAF.
Herr Breucker, es gibt vermutlich keinen Richter, der die RAF besser kennt als Sie.
Das weiß ich nicht. Fest steht, dass ich an 15 Stammheimer RAF-Prozessen beteiligt war, bei acht als Beisitzer, bei sieben als Senatsvorsitzender. Das mit Abstand bedeutendste Verfahren war das erste, der Baader-Meinhof-Prozess.

Wie haben Sie Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Gerichtssaal wahrgenommen?
Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin verfolgten ursprünglich idealistische Ziele. Beide stammten aus christlichen Elternhäusern, waren schon in ihrer Jugend sozial engagiert und hatten ein Herz für die Benachteiligten in der Gesellschaft. Meinhof hat sehr unter dem Prozess gelitten, sie war die tragische Figur dieses Quartetts. Ensslin war die deutlich stärkere weibliche Führungsfigur. Trotz all ihrer rhetorischen Schärfe hatte sie etwas Gewinnendes. Baader war der Typ „Macho und Abenteurer“. Er hatte nicht einmal einen Schulabschluss, war aber intelligent und ungemein durchsetzungsfähig. Er argumentierte schlagfertig und durchschaute als juristischer Laie viele Dinge im Verfahren schnell. Raspe war vergleichsweise zurückhaltend und unauffällig.

Hatten Sie in irgendeiner Form Verständnis für die vier Angeklagten?
Für ihre Taten überhaupt nicht. Selbstverständlich darf sich jeder einen anderen Staat wünschen und dafür kämpfen, aber nicht, indem er Menschen umbringt. Das Fatale ist: an jedem Revolutionär haftet ein Hauch von Romantik. Dieser Zusammenhang hat der RAF damals in den Medien viele Sympathien eingebracht. Blätter wie „Spiegel“, „Stern“ oder „Süddeutsche“ zeigten mehr Verständnis für die Angeklagten und die Verteidiger als für die Justiz.

Ein Effekt dieser Berichterstattung war, dass die Terroristen während der Untersuchungshaft Vergünstigungen bekamen, von denen ein normaler Gefangener nur träumen konnte: gemeinsame Aufenthaltsbereiche für Männer und Frauen, großzügige Besuchsregelungen, der Besitz von Fernseher, Plattenspieler, Hunderten von Büchern – all das war im siebten Stockwerk der Justizvollzugsanstalt normal. Wieso haben die Richter diese Sonderbehandlung angeordnet?
Die Angeklagten und ihre Verteidiger machten die Haftbedingungen schon vor Prozessbeginn zu ihrem zentralen Thema. Otto Schily, der Wortführer der RAF-Anwälte und spätere Bundesinnenminister, sprach von „Isolationsfolter“ und „Vernichtungshaft“. Diese Propagandalüge griff die Presse auf. Um die angeblich inhumane Haft anzuprangern, gingen die Angeklagten in den Hungerstreik. Sie haben nichts gegessen, aber viel geraucht und literweise Kaffee getrunken, entsprechend war ihr gesundheitlicher Zustand. Ärzte empfahlen uns, die Haft weiter zu erleichtern. Damit hofften wir auch, der Isolationskampagne entgegenzuwirken und die hasserfüllte Atmosphäre im Sitzungssaal zu entspannen. Aus heutiger Sicht war das wohl naiv.

Zum Baader-Meinhof-Prozess wird ein Gerichtsgebäude neben der Justizvollzugsanstalt in Stammheim gebaut, mit acht Meter hohen Betonwänden und einem Netz auf dem Dach gegen Bombenangriffe. In dem 610 Quadratmeter großen Verhandlungssaal finden 50 Beteiligte und 206 Zuhörer Platz.

Der Staat hat für den Baader-Meinhof-Prozess einen zwölf Millionen Mark teuren Gerichtssaal errichtet. War das notwendig?
Ihre Fragestellung verrät, dass auch Sie der Propaganda der RAF aufgesessen sind. Der linke Rechtsanwalt Hans-Christian Ströbele, der ja immer gerne das Maul aufreißt, hat das Prozessgebäude eine „in Beton gegossene Vorverurteilung“ genannt. Das Gebäude wurde keineswegs nur für den Baader-Meinhof-Prozess gebaut, sondern für Prozesse dieser Art. Das ist ein großer Unterschied. In Stammheim haben bis heute rund 50 Prozesse stattgefunden, erst im vergangenen Jahr jener gegen die rockerähnliche Bande Black Jackets. Schauen Sie nach München, wo gerade der NSU-Prozess stattfindet: Dort wäre die Justiz froh, sie hätte ein solch funktionales Gerichtsgebäude, das derart abgesichert ist und so vielen Zuschauern Platz bietet.

Die Architektur des Gebäudes wurde als unmenschlich kritisiert. Sie haben viele Jahre Ihres Lebens darin verbracht, wie haben Sie die kalte Atmosphäre empfunden?
Das Gebäude ist nüchtern gestaltet, weil alles auf Funktion ausgelegt wurde – freilich ohne gestalterische Fantasie. Das Haus erfüllte optimal seinen Zweck.

Demnächst soll es abgerissen und durch ein neues Gerichtsgebäude ersetzt werden. Müsste man es als Erinnerungsort erhalten?
Ich habe in diesem Gebäude die 13 bewegendsten und belastendsten Jahre meines Berufslebens verbracht. Aber wenn es marode ist, muss man es durch ein neues ersetzen. Ich hänge emotional nicht daran. Historiker oder Denkmalschützer empfinden vermutlich anders.

Es gibt 26 000 Protokollseiten vom Baader-Meinhof-Prozess. Dokumentiert sind Äußerungen von pöbelnden Verteidigern und rüpelhaften Angeklagten. Der Vorsitzende Richter Theodor Prinzing wird von den Terroristen als „imperialistisches Staatsschwein“ oder „Idiot“ beschimpft, der Anwalt Schily lästert: „Ihre Robe wird immer kürzer und das Krokodil darunter immer sichtbarer!“