Die kaltblütige Ermordung von zwölf Mitarbeitern der Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ mitten in Paris hinterlässt eine schockierte und trotzige Nation.

Paris - Die im hippen Pariser Marais-Viertel aufmarschierte Streitmacht wächst von Minute zu Minute. Scharen von Sanitätern in weißer Weste drängen durch Spaliere blau gewandeter Gendarmen. Zivilpolizisten gesellen sich hinzu. Unter Jacken und Jacketts zeichnen sich kugelsichere Westen ab. Reporter recken Kameras in die Höhe, um zu zeigen, was nicht mehr zu sehen ist: das schwerste Attentat in Frankreich seit 40 Jahren.

 

Zwei schwarz gekleidete vermummte Männer sind mit Kalaschnikows in die Redaktionsräume des religionskritischen Satiremagazins Charlie Hebdo gestürmt und haben ein Massaker angerichtet. Zwölf Tote sind zu beklagen und elf Verletzte, drei Opfer schweben noch in Lebensgefahr.

„Charlie Hebdo“, das ist jenes Magazin, das 2006 dem Beispiel des dänischen „Jyllands Posten“ folgend Mohammed-Karikaturen veröffentlicht hatte und darüber ins Visier islamischer Fanatiker geraten war. Acht Jahre später haben Attentäter nun die Terrordrohungen von damals wahr gemacht. Mit Rufen „Allah ist groß“ und „Wir haben den Propheten gerächt“ sind die Mörder davongestürmt. Zurück bleibt eine Stadt, ja ein Land im Schock.

Die Sirenen der Ambulanz-, Feuerwehr- und Polizeiwagen sind verstummt. Die Blaulichter zucken weiter. Die schmale Rue Nicolas Appert, in der das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ seinen Sitz hat, vermag den Andrang mittlerweile kaum noch zu schlucken. Sicherheitsbeamte in Zivil bahnen dem französischen Staatschef einen Weg. François Hollande hat den Élysée-Palast überstürzt verlassen. Nicht einmal einen Mantel hat er angezogen. Ein Passant spricht in ein Bündel Mikrofone, dass er bisher geglaubt habe, so etwas gebe es nur in Pakistan. Eine Journalistin, die im nahe gelegenen Redaktionsgebäude der Zeitung „Libération“ um 11.30 Uhr Feuersalven gehört hat und zum Tatort gerannt ist, erzählt, noch immer atemlos: „Auf der Straße sind mir flüchtende Passanten entgegengekommen, die Polizei war sofort da, es gab immer neue Schusswechsel, ich habe auf einem der Kinderspielplätze Schutz gesucht, wo sich Mütter und Kinder hinter Bänken und Schaukeln versteckten.“

Ins Herz der Nation getroffen

Das Stimmengewirr wird leiser, der Staatschef ergreift das Wort. „Eine außergewöhnliche Barbarei hat sich hier in Paris abgespielt“, sagt Hollande. Opfer seien Journalisten, welche die Freiheit in Anspruch genommen hätten, welche die Republik schütze. Hinter dem Präsidenten kämpft Anne Hidalgo mit den Tränen, die Pariser Bürgermeisterin. Sie will, sie kann jetzt nichts sagen. „Wir müssen jetzt zusammenrücken, einen Block bilden gegen die terroristische Bedrohung“, fordert der Staatschef. Die Sicherheitskräfte hätten in den vergangenen Wochen mehrere Attentate vereitelt. Niemand solle denken, dass er straflos die Prinzipien der Republik verletzen könne. Im Fernsehen wird Hollande am Abend seine Landsleute ein weiteres Mal dazu aufrufen, zusammenzurücken und dem Terrorismus die Stirn zu bieten. Er wird die Opfer als Helden der Meinungsfreiheit würdigen und versprechen, dass Frankreich in ihrem Namen „den Gedanken der Freiheit weiter verteidigt“.

Erste Spekulationen über die Täter machen die Runde. Steckt der Islamische Staat dahinter? Zeugen berichten, die Täter hätten sich zu Al-Kaida bekannt. Der frühere Auslandsgeheimdienstchef Alain Chouet widerspricht. Terrororganisationen von einem solchen Kaliber hätten kaum ein im Ausland weitgehend unbekanntes Satireblatt als Anschlagsziel gewählt, glaubt Chouet. Auf eigene Faust agierende Fanatiker sieht er am Werk, was die Fahndung freilich nicht einfach macht.

Aus dem Regierungspalast Matignon meldet sich der Premier zu Wort. Man werde alle Hebel in Bewegung setzen, um die Täter zu fassen, verspricht Manuel Valls. Eine Selbstverständlichkeit ist das. Doch in einem Augenblick, da allseits Ratlosigkeit, ja Angst vor weiteren Attentaten herrschen, spendet auch Banales Trost. Die Terroristen hätten ins Herz der Nation getroffen, fügt Valls hinzu. Wildfremde Menschen umarmen einander. Ein Rentner hakt sich bei einem Gendarmen unter. Gemeinsam entfernen sich die beiden vom Ort des Verbrechens. Der alte Mann bestimmt das Tempo. Der Polizist mäßigt den Schritt. Die beiden, die sich vor ein paar Stunden noch nicht kannten, gebärden sich wie gute Freunde. Das Attentat scheint sie daran erinnert zu haben, was wirklich wichtig ist im Leben, für einen Rentner wie für einen Ordnungshüter.

Derweil scheinen die sozialen Netzwerke vor Solidaritätsbekundungen zu bersten. „Ich bin Charlie“(#JeSuisCharlie), postet und twittert die halbe Welt. Andere Nutzer rufen dazu auf, massenweise „Charlie Hebdo“ zu abonnieren. Auf dem Pariser Place de la République wie auch auf Straßen und Plätzen zahlreicher anderer französischer Städte kommen Bürger zu Solidaritätskundgebungen zusammen. Händler des Marais solidarisieren sich ebenfalls, kleben alte „Charlie Hebdo“-Titelbilder an Türen und Schaufenster. Vor Nationalversammlung, Senat und anderen öffentlichen Gebäuden sinkt die Trikolore auf Halbmasthöhe. Ein für den Abend angesetztes Erstliga-Fußballspiel beginnt mit einer Schweigeminute. Den Donnerstag hat Hollande zum Staatstrauertag erklärt.

Die Mohammed-Karikaturen von 2006 machen nach einmal die Runde. Auf einer ist der Prophet Mohammed zu sehen, wie er entsetzt die Hände vor dem Gesicht zusammenschlägt. „Es ist hart, von Dummköpfen geliebt zu werden“, steht in der Sprechblase zu lesen, die aus dem Mund des Religionsstifters aufsteigt.

Ein Teil der Karikaturen waren Nachdrucke gewesen. Das dänische Magazin „Jyllands Posten“ hatte sie zuvor veröffentlicht. Andere stammen aus der Feder des „Charlie Hebdo“-Zeichners Cabu. Nun gehört er zu den Toten, die auf Bahren aus dem Redaktionsgebäude getragen werden. Drei zeichnende Kollegen sind ebenfalls ums Leben gekommen sowie der Chefredakteur Stéphane Charbonnnier. „Die haben fast die gesamte Redaktion hingerichtet“, sagt einer der Überlebenden.

Die Redakteure des Blattes wussten um die Bedrohung. Das Innenministerium und die Sicherheitskräfte waren ebenfalls im Bilde. „Charlie Hebdo“ stand unter Sonderbewachung. Polizisten in Zivil pflegten unweit des Redaktionsgebäudes zu parken und es rund um die Uhr im Blick zu behalten. Als die Terroristen am Mittwochmittag das Feuer eröffnen, sind die zur Bewachung abgestellten Beamten zur Stelle. Kaum fallen die ersten Schüsse, stürmen sie zum Tatort. Sie nehmen die Verfolgung der Attentäter auf, die in einem schwarzen Kleinwagen das Weite suchen. Im elften Arrondissement  glauben die Verfolger, am Ziel zu sein. Das Fluchtfahrzeug hat einen am Straßenrand emporragenden Betonpfeiler gerammt. Doch die Insassen können entkommen. Schlimmer noch. Einer der Attentäter, in seiner dunklen Kluft kaum von den Verfolgern zu unterschieden, richtet die Mündung seiner Kalaschnikow auf einen am Boden liegenden verletzen Polizisten, tötet ihn aus nächster Nähe.

Krisensitzung am Nachmittag

Die Sicherheitskräfte müssen sich fürs Erste mit dem zurückgebliebenen Wagen begnügen, dessen Seitenscheibe von Schüssen durchsiebt ist und von dessen Innern sich Experten der Spurensicherung Hinweise auf die Mörder erhoffen. Dass die Täter fliehen konnten, hat Folgen. Frankreichs Regierung ruft für den Großraum Paris die höchste Alarmstufe aus. „Attentats-Alarm“, heißt sie. Einen verstärkten Schutz für Medien, Kaufhäuser, Kirchen, Schulen oder Verkehrsknotenpunkte bedeutet das. Schnellfeuergewehr oder Sprechfunkgerät in der Hand, patrouillieren Polizisten durch Fern-, S-Bahn- und Metrobahnhöfe.

Staatschef Hollande trommelt das Kabinett noch am Nachmittag zu einer Krisensitzung zusammen. Mit versteinerten Mienen schreiten die Minister die Treppen zum Élysée-Palast hinauf. Das Treffen findet hinter verschlossenen Türen statt. Über das Ergebnis dringt zunächst nichts nach außen. Das Washingtoner Außenministerium kündigt an, die Pariser US-Botschaft abriegeln zu wollen. Vor dem Haus des französischen Erfolgsschriftellers Michel Houellebecq bezieht ein Sondereinsatzkommando Stellung. Houellebecqs umstrittener Roman „Unterwerfung“ ist am Mittwochmorgen in die Buchhandlungen gekommen. Er prophezeit, wovor die Rechtspopulisten des Landes warnen: die Eroberung Frankreichs und Europas durch Islamisten. Sollte der Tag des Anschlags im Licht des Veröffentlichungstermins gewählt worden sein? Eine der zahlreichen Fragen ist das, die am Mittwochabend noch niemand beantworten kann. Fest steht, dass die jüngste, am Tag des Attentats erschienene „Charlie Hebdo“-Ausgabe den Schriftsteller ausgiebig würdigt. Sein Konterfei prangt auf der Titelseite.

Fest steht auch, dass Coco überlebt hat. Der Zufall hat es so gefügt, dass die Zeichnerin des Blattes auf dem Rückweg vom Kindergarten, wo sie ihre Tochter abgeholt hatte, den Attentätern über den Weg lief. Die vermummten Männer bedrohten sie mit dem Schnellfeuergewehr, zwangen sie, den Türcode zum Gebäude einzutippen. Die Männer stürmten durch die sich öffnende Eingangstür in die zweite Etage, wo die Kollegen gerade eine Redaktionskonferenz abhielten, und eröffneten das Feuer. Coco verschanzte sich in ihrem Büro. Als sie am Abend Journalisten vom Tathergang erzählen soll, bringt sie nur den Satz heraus: „Die Männer sprachen perfekt Französisch.“