Traditionell hat auch das Publikum im Theater seine Bühne: nämlich in den Wandelhallen und an den Tresen der Opern- und Schauspielhäuser. Aber mehr und mehr werden die Freiräume des Zuschauers eingeengt – von den Theatern selbst.

Stuttgart - Das Theater ist nicht nur ein Ort, an dem Stücke aufgeführt werden. Das Theater ist eine Institution, die, soweit der Öffentlichkeit zugänglich, aus drei Teilen besteht: der Bühne, dem Zuschauerraum und dem Foyer. Diesen drei Räumen sind zwei Gruppen von Personen zugeordnet: das Ensemble (samt Regisseuren, Dramaturgen, Bühnenbildnern) und das Publikum. Seit den 1960er Jahren hat sich der Stil dessen, was auf der Bühne zu sehen ist, einschneidend geändert; dieser Wandel wurde vielfach bemerkt und besprochen, gerügt oder gelobt. Die Reformen auf der Bühne aber zogen einen ähnlich gravierenden Wandel im Foyer und im Umgang mit dem Publikum nach sich – diese Revolution fand kaum Beachtung.

 

Ein „Theaterabend“ im herkömmlichen Sinne steht heute dem Besucher des Theaters kaum mehr bevor. Die Stunden, die er dort verbringt, verlaufen ganz anders als die des Bildungsbürgers von einst. Das Theater, das dieser besuchte, war sein Theater, er hatte es für sich eingerichtet. Das Foyer spielte deshalb keine geringere Rolle als die Bühne. Der Theaterabend jenes Bürgers begann im Foyer und endete im Restaurant; das Schauspiel war nur ein Teil seines Festes.

Das Foyer, angelegt als Wandelhalle, bewahrte architektonisch die Erinnerung an die Straße, des Besuchers Bühne für den Tag: Hier wie dort traf er sich mit seinesgleichen, stellte sich dar, unterhielt sich, diskutierte. Während hinter der Bühne die Schauspieler ihre Garderobe fürs Stück anlegten, führte der Zuschauer, seinen sozialen Status und seinen Geschmack zu beweisen, vor der Bühne die seine vor; während die Schauspieler die hohen Worte memorierten, die sie gleich zu deklamieren hatten, übte er den Gesellschaftston, der auch nicht ganz kunstlos sein durfte. Lange bevor das Stück begann, fand im Foyer das Theater des Bourgeois statt, der Herr in der Stadt war und Herr auch in diesem Hause.

Die Bühne hat sich des Foyers bemächtigt

Mit dieser Herrschaft ist es nun zu Ende. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ärgert sich die Avantgarde über das Machtgebaren der Bourgeoisie in Kunst und Kultur. Brecht wollte das Publikum erziehen, Peter Handke hat ihm endgültig mit seiner Publikumsbeschimpfung den Marsch geblasen. Inzwischen ist der Affront erfolgreich beendet, die Bühne hat die Rampe übersprungen und sich des Foyers bemächtigt. Die Herrschaft im Theater hat das Theater, nicht das Publikum. Dieses gibt, sobald es das Foyer betritt, jegliche Bewegungs- und Gedankenfreiheit auf. Nicht erst im Zuschauerraum wird es platziert, schon im Foyer warten Stuhlreihen darauf, dass es Platz nimmt: Entweder soll es sich belehren oder nähren lassen.

Stuttgart besitzt – um ein so naheliegendes Beispiel für viele andere zu nennen – in seiner Oper eines der schönsten Foyers Deutschlands. Vor den Aufführungen ist es unbegehbar, da, wie heutzutage Pflicht, die „Einführung“ stattfindet; braune Plastikstühle verhindern das Schlendern durch den schönen Wandelgang. Kommt nun, wie nach der Renovierung im Schauspielhaus, noch ein ausgedehnter Konsumbereich hinzu, so entsteht ein unfeierliches Gedränge und Geschiebe im Eingang, das mehr an verkaufsoffene Sonntage als einen Theaterabend erinnert.

Die zahlreichen Sitzgelegenheiten vor der Theke laden zum „Stehsitzen“ ein, einer Form von Aufenthalt, die Kaufhäusern abgeschaut ist. Um möglichst viele Menschen auf möglichst kleinem Raum zum bewegungslosen Glück des Konsums zu arrangieren, erfand man an Barhocker erinnernde Stühlchen, von denen die Beine willenlos herabbaumeln und die nicht mehr Platz gewähren als eben der Hintern braucht, der auf ihnen sitzt. Ein frei im Raum zu rückender Stuhl, ein Stuhl mit Lehne gar, auf dem man die Beine ausstrecken, sich einmal dem, einmal jenem Gesprächspartner zuwenden könnte, ist heutzutage auch für ein Theater Platzverschwendung. Im Foyer des Schauspielhauses sieht es nach der Renovierung nicht viel anders aus als in der neugestalteten Karlspassage: Das Design ist hier wie dort hypermodern, platzsparend, unbequem, verkaufsanregend. Auch im Theater herrscht die Imbiss-Situation.

Wenig Zeit zu Diskussion und Überlegung

Durch die Einführung, die geistige Vorbereitung auf das Bühnengeschehen, gewinnt das Theater dem Publikum weitere Quadratmeter ab. Von Schillers moralischer Anstalt bis zu Brechts Lehrstücken reicht das Bestreben des Theaters, sich als Erzieher wichtig zu tun. Endlich ist es mit der Einführung da angekommen, wo es hinwollte: zur Interpretation seiner selbst. Die Einführung stimmt den Besucher auf die Absicht nicht des Stückes, sondern der Inszenierung ein, der keiner ohne Belehrung gewachsen wäre.

Kritik an dem, was auf der Bühne geschieht, wird durch diesen Selbstkommentar von vornherein ausgeschaltet. Der unvorbereitete Zuschauer, der sich so aufmerksam behandelt sieht, hält, was er hört, für die zuverlässigste Interpretation dessen, was ihm demnächst auf der Bühne geboten wird. Belehrung ist immer Entmächtigung, auch wenn sie nach Aufklärung strebt; und da im Theater der Aufklärung sofort die Aufführung folgt, bleibt wenig Zeit zu Diskussion und Überlegung. Unter dem Vorwand der Sorge um seinen Gast, den Zuschauer, bevormundet das Theater ihn unentwegt, körperlich wie geistig.

Nicht weniger als durch Konsum und Belehrung werden die Freiräume des Zuschauers eingeengt durch zusätzliche Veranstaltungen. Das Foyer selbst ist zur Spielstätte geworden. Immer wieder hat der Besucher um Kulissen herumzubalancieren, die für kleinere Inszenierungen im Foyer bereitstehen. Was einmal hinter der Bühne verborgen war, liegt nun störend vor der Bühne. Mit diesen Extras wirbt das Theater, ähnlich den Läden in der Stadt, mit einer Art „Theater and more“ für sich (was sich unter dem Logo „Theater x . . .“ verbirgt). Es bezeugt einen Übereifer im Dienst am Publikum, der dieses aber immer mehr beiseite schiebt.

Lange Schlangen an den Garderoben

Verschwunden ist im Stuttgarter Schauspiel auch Niedlichs Bücherstand, eine Besonderheit, die durch das persönliche Engagement des Buchhändlers, durch seine genaue Kenntnis der deutschen Theater ein Sortiment bereithielt, das alle Kenner und Liebhaber des Theaters anzog. Hier traf man sich, um über die Theater im Lande und in Stuttgart zu diskutieren. In dem Shop, der nun vom Theater selbst betrieben wird, findet man kaum mehr als die Romane, die gerade in Szene gesetzt werden, und T-Shirts, mit denen man noch niemanden in der Stadt hat fürs Theater werben sehen.

Wie wenig man die Bedürfnisse des Publikums respektiert, zeigt sich da, wo kein Geld zu verdienen ist. Beim Einlass zu den Aufführungen etwa, wo sich lange Schlangen bilden, weil ein Teil der Eingänge geschlossen bleibt; an der Garderobe, die, trotz Erweiterung der Zahl der Sitzplätze, um die Hälfte vermindert wurde. Dort harren die Zuschauer lange, bis sie gehen können und haben, vom Theater genährt, wie sie sind, auch nichts im Sinn als dies. Ein Gespräch der Zuschauer untereinander soll es nicht geben – auch dies ein Grund, warum Aufführungen immer kürzer werden und Pausen entfallen. Zwar bieten Theater Gespräche nach der Aufführung an, aber auch diesmal geht die Interpretation von Schauspielern aus. So endet der Theaterabend eigentlich unbesprochen durch die, die ihn gemeinsam erlebten. Das Theater mag ein Ort des künstlerischen Experiments sein, ein Ort der städtischen Kommunikation ist es nicht mehr.