Einst ist er sehr schnell gerannt, jetzt lässt es Dieter Baumann ruhiger angehen. Sein Sport findet auf der Bühne statt – von Mittwoch an im Stuttgarter Theaterhaus.

Stuttgart - Sport spielt im Alltag eine enorme Rolle. Ob passiv genossen oder aktiv betrieben: Sport prägt nicht nur unsere Freizeit, sondern im Grunde auch unser Denken. Schneller als die Konkurrenz zu sein, kräftiger und leistungsfähiger und am Ziel der Erste und Beste: diese Kategorien beherrschen mittlerweile wie selbstverständlich auch unser Privat- und Berufsleben und geben einer Wettbewerbsgesellschaft, der sich keiner entziehen kann, den Takt vor. Sport ist unsere Leitkultur – und deshalb verwundert es, dass eben diese Sphäre von Sieg und Niederlage so selten Eingang findet in die Literatur. Jogging-Ratgeber gibt es zuhauf, aber einen Roman über Jogger und Läufer?

 

Immerhin: einen Roman über zumindest einen Läufer hat vor mehr als fünfzig Jahren Siegfried Lenz geschrieben. Kaum jemand kennt das Buch noch, dieses 1959 erschienene „Brot und Spiele“, das vom Aufstieg und Fall des Bert Buchner handelt. Zu den Leuten aber, die den Roman nicht vergessen haben, gehört der 1965 geborene, in Tübingen lebende Dieter Baumann. „In meiner Generation“, sagt der Olympiasieger über 5000 Meter, „in meiner Generation und Leistungsklasse hat jeder dieses Buch gelesen. Es war unsere Bibel“ – und wie das so mit Bibeln ist, zeitigt nun auch die Lektüre von „Brot und Spiele“ weit reichende Folgen. Am Mittwoch bringt der Hochleistungssportler den Roman erstmals auf die Bühne: als Soloperformer tritt Baumann im Stuttgarter Theaterhaus auf.

„Ich bin kein Schauspieler.“

Dass der Sportsmann sich was traut, weiß man. „Ich bin kein Schauspieler“, sagt der Läufer, der 1992 in Barcelona Gold geholt hat. Diese Selbsteinschätzung hindert ihn allerdings nicht daran, mit vitaler Unerschrockenheit die Bühne zu entern – nun bereits zum zweiten Mal, nach seinem Soloprogramm „Körner, Currywurst, Kenia“, mit dem er vor zwei Jahren durch die Republik getourt ist. Bis ins Hamburger Schauspielhaus von Friedrich Schirmer hat er es damals gebracht, auch dort unterhielt er das Publikum mit Texten, die auf seinen unter anderem in der taz erschienenen Glossen fußten. Die Show war komisch, kabarettistisch, selbstironisch und autobiografisch, mithin also völlig anders als das, was er jetzt in seinem Nachfolgeprogramm zeigt – gerade so, als hätte sich der Autor und Kleindarsteller zunächst seine eigenen Erfahrungen vom Leib spielen müssen, um offen zu werden für fremde und eben auch tragische Lebensgeschichten anderer Leute.

Zu dieser Öffnung fürs Fremde gehört auch die Verwandlung: Im Tübinger Sudhaus, wo die Proben zur Uraufführung von „Brot und Spiele“ stattfinden, ist Baumann in gedeckten Brauntönen eingekleidet. Schuhe, Hose, Pullover, Jacke: von Kopf bis Fuß steckt er in jenen vergilbten Nachkriegsjahren, in denen der 10 000-Meter-Läufer Buchner via sportlichem Erfolg die gesellschaftliche Rangleiter hochsteigt, ehe er in einem letzten, ja, allerletzten Rennen seine allumfassende Niederlage zelebriert in trotziger Verzweiflung. Baumann berichtet uns nun als aufgewühlter Sportreporter mit Mikro in der Hand von diesem finalen Rennen. Doch schon im nächsten Augenblick hockt er auch als Buchners Freund vor dem Fernseher und kommentiert fassungslos, was er in der Arena sieht.

Der Hobbykünstler kann das Kopfkino nicht abstellen

Welche Laufbahn auf der, nun ja, Stadionlaufbahn endet, hat uns der Performer freilich schon zuvor auf der Bühne erklärt. Er schlüpft nämlich nicht nur in die Rollen des Reporters und Freunds, sondern auch in die des Lesers, der schlicht Passagen aus „Brot und Spiele“ vorträgt. Unter der Regie von Cornelia Schwelien wird Baumann also zum Protagonisten eines Theaters, das ihm über die äußere Verwandlung hinaus auch eine innere Verwandlung abverlangt – und dass das Publikum trotz allem Rollenspiel dabei nach Parallelen zwischen Buchner und Baumann suchen wird, ist dem Darsteller klar. „Das Kopfkino werde ich nicht abstellen können“, sagt der Hobbykünstler, der im Übrigen jegliche Parallelität der Lebensläufe gelassen von sich weist.

Er ist darüber hinweg

Und überhaupt: die Gelassenheit. Der Mann, den man ob seines Laufvermögens auch als „weißen Kenianer“ bezeichnet hat, macht bei den Proben einen äußerst entspannten Eindruck. Vorbei die Zeiten, die von Verbitterung geprägt waren, weil er sich gegen Dopingvorwürfe zur Wehr setzen musste. Vorbei und abgehakt, diese Zahnpasta-Affäre aus der Jahrhundertwende, die er noch in „Körner, Currywurst und Kenia“ zum Humorthema gemacht hat. Baumann scheint da drüber weg zu sein – eine erstaunliche Vergangenheitsbewältigung, zu der eben auch die Arbeit auf der Bühne beigetragen hat. Und dass er sich da weitgehend frei von Lampenfieber ins Rampenlicht stellt, verdankt sich vermutlich einem genialen mentalen Trick: „Für mich ist alles Sport. Ich gehe nie zu Proben, ich gehe immer nur ins Training.“

Jetzt trainiert der schnelle Mann mit der großen Ausdauer also für „Brot und Spiele“ nach Siegfried Lenz. Ob’s auch in dieser Disziplin für eine Medaille reicht, wird man sehen – die Konkurrenz im klassischen Erzähltheater ist mindestens so hart wie auf der Aschenbahn.

Die Premiere findet am morgigen Mittwoch um 20 Uhr statt. Folgevorstellungen gibt es am Freitag und Samstag um 20.15 Uhr sowie am Sonntag um 19 Uhr.