Krieg, Terror, Flucht, Fremdenfeindlichkeit: Gewalt beherrscht nicht nur die Nachrichten, sondern auch den Alltag vieler Familien. Der Schweizer Theatermann Milo Rau lässt in Zürich vier Schauspieler erzählen, was das in ihrem Leben bedeutet. Heraus kommt eine dramatische, grandiose, bewegende, auf ihre Art sogar beglückende Produktion.

Zürich - Das Setting ist denkbar einfach: Auf der Bühne steht eine zerschossene und zerbombte Hausfassade, deren Rückseite eine Wohnküche zeigt, chaotisch beengt, aber intakt – und da sich die janusköpfige Bühne bereits in der ersten Minute der zweistündigen Inszenierung um die Achse dreht, wird der familiäre Rückzugsort vor den Schrecknissen der Welt, vor Krieg, Terror, Vertreibung und Flucht, zum alleinigen Schauplatz des „Empire“, das jetzt in der Zürcher Werft uraufgeführt worden ist: Vier Schauspieler, die keine Rollen spielen, sondern sich selbst, stellen zwischen Spüle und Esstisch ihre Biografien vor. Sie erzählen aus ihrem Leben. Sie reden. Sie schweigen. Sie hören einander zu. Küchengespräche, die nur gelegentlich von eingeblendeten Erinnerungsbildern und Erinnerungsvideos ergänzt werden. Sonst nichts. Es zählt das gesprochene Wort, denn der Regisseur Milo Rau braucht keinen Schnickschnack, um das Publikum zu fesseln.

 

Was er braucht, ist ein Konzept – und das hat der in Bern geborene, in Berlin lebende Theatermacher ohne Zweifel. Noch keine vierzig, zählt Rau schon jetzt zu den Elder Statesmen des dokumentarischen Theaters. Er leitet das von ihm gegründete „International Institute of Poltitical Murder“, kurz IIPM, unter dessen Namen er alle seine weltumspannenden Aktivitäten zusammenfasst: Filme, Hörspiele, Bücher und mehr als fünfzig Theaterstücke, zu denen auch ganz und gar spektakuläre Aktionen gehören. Die Hinrichtung des rumänischen Diktators Ceausescu, der Völkermord in Ruanda, die Bürger- und Kolonialkriege im Kongo, die Schauprozesse gegen Pussy Riot in Moskau und die Geschichte des belgischen Kindermörders Marc Dutroux - das sind einige der Stoffe, die Rau vor Ort recherchiert und szenisch nachgestellt hat, oft unter riskanten Bedingungen. Daneben verfolgt der Workaholic seit drei Jahren noch ein anderes Projekt, die „Europa-Trilogie“, die mit dem beim Zürcher Theaterspektakel gezeigten, mit der Berliner Schaubühne koproduzierten „Empire“ ihren Abschluss findet. Vorausgegangen sind die Stücke „Civil Wars“ und „The Dark Ages“, die in einem ähnlich simplen Setting das gleiche Ziel wie die jetzt zu hörenden Küchengespräche verfolgen.

In seiner Trilogie will sich Rau mit dem „Mythos und der Realität Europas“ auseinandersetzen, wie es im Programmheft heisst. In Teil eins untersuchte er die ideologische Unbehaustheit, die junge Belgier und Franzosen in den Dschihad ziehen lässt, in Teil zwei die Kriege und Vertreibungen in Ex-Jugoslawien, Russland und Deutschland – und jetzt, im Finale, kommen Schauspieler aus den Rändern Europas zu Wort, aus Rumänien, Griechenland und Syrien, die von „Folter, Flucht, Trauer und Tod“ erzählen. Rau aber ist nicht nur ein Mann des Theaters, sondern auch – als Schüler des französischen Soziologiegurus Pierre Bourdieu – ein hochreflektierter Vertreter linker Gesellschaftstheorien. Als solcher zielt er mit seinen Inszenierungen immer auch aufs Überindividuelle, das aus der Zusammenschau der individuellen Biografien gleichsam von selbst entspringen soll. Nicht nur in „Empire“ ist dieser Generalnenner unseres Lebens nun die Gewalt, die alle kollektiven Strukturen durchsetzt und verseucht, bis hinab in die Familie.

Rami sucht seinen Bruder auf Fotos aus den syrischen Folterkellern

Familiengeschichten also: Maia Morgenstern wurde 1962 in Bukarest als Tochter jüdischer Eltern geboren, wuchs unter dem antisemitischen Ceausescu-Regime auf, spielte die Mutter Maria in Mel Gibsons „Die Passion Christi“ und wurde in der Synagoge von einem alten Mann attackiert, weil sie in einem antisemitischen Machwerk mitgewirkt habe. Akillas Karazissis wurde 1957 in Athen geboren, wuchs unter dem Obristenregime auf, ging zum Studium in das als Befreiung empfundene Heidelberg, kam dort ans Theater und kehrte nach Jahren in seine Heimat zurück, ähnlich wie sein Großvater einige Jahrzehnte davor, der in der griechischen Gemeinde in Odessa lebte, vor den Bolschewiki nach Wladiwostok floh und schließlich finanziell und körperlich ruiniert in Athen strandete. Und dann sind da noch die beiden Syrer, die mittlerweile in Europa im Exil leben: Ramo Ali, dessen elterliche Küche auf der Bühne zu sehen ist, hat vor kurzem das Grab des Vaters in seinem an der Grenze zur Türkei liegenden Geburtsort besucht und musste sich dort erbrechen, weil er nicht mehr weinen kann. Und Rami Khalaf vermisst seit Jahren seinen Bruder, der in einem Kerker des Assad-Regimes verschwunden ist. Seitdem sucht er ihn. Er hat 12 000 Fotos von zu Tode gefolterten Gefängnisinsassen gesichtet und glaubt, Abdo darunter entdeckt zu haben. Sicher ist er sich nicht. Einige der Fotos lässt die Regie auf die Leinwand projizieren.

Es sind also gewundene, vielfach gebrochene, bisweilen mit überraschendem Humor erduldete Biografien, die in „Empire“ zur Sprache kommen. Rau hat sie miteinander verschnitten und derart ineinander montiert, dass sie sich tatsächlich an markanten Punkten überschneiden. Die Trauer der syrischen Schauspieler, dazu noch die Trauer von Maia Morgenstern, die Theater spielte, als ihr Vater, ein glühender Kommunist, im Sterben lag - da und andernorts verknoten sich die Lebenslinien auf beiläufige Weise und rufen die großen Themen auf, die der Regisseur in Interviews und Essays brillanten Analysen unterziehen kann. Aber Theorie hin, Theorie her, Raus mit dreizehn Schauspielern aus sechs Ländern realisierte, jetzt glorios beendete „Europa-Trilogie“ besticht durch etwas anderes: Sie ist eine Schule der Empathie. Die mit Detailfülle ausgebreiteten Leben sind so aufregend und anrührend, so unerwartet in ihren Wendungen, so groß in ihrem Schmerz, so tief in ihrer Menschlichkeit, dass man ihnen als Zuschauer atemlos und gebannt folgt. Man geht mit und lässt sich drauf ein, mit einer radikalen Rückhaltlosigkeit, als wäre man der Therapeut der Männer und Frauen, die hier von ihren Beschädigungen erzählen. Ihnen mit Interesse, vielleicht sogar voller Sympathie zuzuhören, das wäre schon was, sagt Rau: „Mehr an Erlösung kann man auf dieser Welt nicht kriegen“ - und größeres Theater als jetzt bei „Empire“, trotz aller Einfachheit, auch nicht.

Weitere Aufführungen in Zürich am 3. und 4. September. Die Berliner Premiere findet am 8. September in der Schaubühne statt.

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