Anne Lipps betreut seit mehr als 25 Jahren Männer, die ein Sexualdelikt verübt haben: Exhibitionisten, Vergewaltiger, Pädophile, Besitzer von Kinderpornografie. Zu Gast bei einer Sitzung mit vier ihrer Klienten.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Die vier Männer, die um 18 Uhr auf grauen Stühlen Platz nehmen, haben noch nie ein Bier zusammen getrunken, auf keinem Fußballplatz gemeinsam gefeiert – und doch wissen sie mehr voneinander als engste Familienmitglieder und Freunde. Alle zwei Wochen geben sie in diesem Raum mit den gelb gestrichenen Tapeten ihr Innerstes preis.

 

Psychotherapeutin Anne Lipps behandelt Sexualstraftäter. Foto: Heinz Heiss
„Ich kann nur hier offen reden“, sagt Michael Günther*, ein 64-jähriger Musiker, der drei Jahre und neun Monate wegen Kindesmissbrauchs im Gefängnis saß. Würde seine Vorgeschichte bekannt, wäre sein zweites Leben vorbei. „Für die Gesellschaft ist man ein Verbrecher und bleibt ein Verbrecher, obwohl man seine Strafe abgesessen hat“, sagt er.

„Sehr sensible Leute“

Seit seiner Entlassung vor mehr als vier Jahren fährt Günther regelmäßig nach Stuttgart zur Gruppentherapiesitzung für Sexualstraftäter beim Institut Systegra. An diesem Tag sind mit dabei: ein 66-jähriger Exhibitionist, ein 33-jähriger Ingenieur, der Kinderpornografie heruntergeladen hat, ein 48-jähriger Familienvater, der seine Stieftochter missbraucht hat. Alle sehen ganz normal aus, bei keinem würde man schon äußerlich ein ungutes Gefühl bekommen, begegnete man ihm auf der Straße.

„Das sind nicht die Monster, als die man sie darstellt, sondern in der Regel sehr sensible Leute“, sagt die Psychotherapeutin Anne Lipps, die Leiterin von Systegra, die seit mehr als 25 Jahren Sexualstraftäter in Einzel- und Gruppentherapien betreut. Meistens hat ein Richter vorher eine Therapie zur Auflage gemacht. Die Täter zahlen diese selbst, bei Bedürftigen übernimmt ein Förderverein den Betrag.

Michael Günther, der nach außen Selbstsicherste von den vieren, macht den Anfang. „Ich habe einmal in meinem Leben Mist gebaut, dazu stehe ich“, sagt er und stellt klar: „Ich bin nicht gefährlich.“ Die Beine nach vorne gestreckt, erzählt er seine Geschichte. Er hat einem 13-Jährigen Unterricht in einem Blechblasinstrument gegeben. Der Junge war ohne Vater aufgewachsen und wurde in der Schule gemobbt. „Ich habe ihn gefördert, er ist aufgeblüht“, erzählt der Musiker, der zu einer Vaterfigur für den Jungen wurde. „Du bist mein Papa, hat er sogar zu mir gesagt.“ Günther fängt plötzlich an zu schluchzen. Er braucht einen Moment, nimmt die Brille ab, wischt sich die Augen, fasst sich wieder. Dann sei es „in die falsche Richtung“ gegangen. Er hatte sich in den Jungen verliebt – und verhielt sich, wie es ein guter Vater niemals tun würde.

Sich in die Opfer hineinfühlen

„Was haben Sie gemacht?“, fragt Anne Lipps. „Ich habe bei ihm Hand angelegt“, sagt Günther. Insgesamt zehn Mal hat er am Geschlechtsteil des Jungen manipuliert, wie es in der Juristensprache heißt. „Ich wusste damals gar nicht, dass das eine strafbare Handlung war, er hat mich doch darum gebeten“, sagt er. Anne Lipps unterbricht: „Im vorauseilenden Gehorsam hat der Junge gedacht, sie wollten das.“ Günther nickt.

Anne Lipps verfolgt einen psychoanalytischen Ansatz in ihrer Therapie: Die Männer sollen lernen, sich in ihre Opfer hineinzufühlen – und auch das eigene Tätersein, das viele wie Michael Günther zunächst verneinen, einsehen. Pro Jahr kommen rund 60 Sexualstraftäter zu der Psychotherapeutin – entweder nach Stuttgart oder nach Aalen. Das Institut Systegra ist damit kleiner als die Psychotherapeutische Ambulanz für Sexualstraftäter vom Verein Bewährungshilfe Stuttgart. Diese hat Anne Lipps vor vielen Jahren selbst mit aufgebaut.

8,5 Prozent der Täter in Therapie werden rückfällig

Die Ambulanz setzt auf ein verhaltenstherapeutisches Konzept und hat im Vorjahr 189 Gewalt- und Sexualstraftäter behandelt. Wie viel eine Therapie ausmacht, zeigt eine Untersuchung aus dem Jahr 2007 des Justizministeriums, die 250 von der Psychotherapeutischen Ambulanz betreute Sexualstraftäter überprüft hat. „Bei Nichtbehandlung beträgt die Rückfälligkeit 22 Prozent, nach Therapie 8,5 Prozent“, fasst der Leiter der Ambulanz für Sexualstraftäter, Jürgen Pitzing, das Ergebnis zusammen.

Michael Günther ist überzeugt, nicht rückfällig zu werden. Er kommt inzwischen freiwillig zur Gruppentherapie von Systegra. Die Auflage des Richters hat er längst erfüllt. Der Musiker hat im Gefängnis angefangen zu schreiben, um zu verstehen, wie aus ihm ein Täter werden konnte. „Ich habe erst im Gefängnis realisiert, dass ich homosexuell bin – mit über 50“, erzählt er. Vorher habe er das verdrängt.

Und heute? „Was ich gemacht habe, war eine Beziehungstat. Ich gehe keine Beziehung mehr ein.“ Er gibt Jungen auch keinen Unterricht mehr. Gar nicht erst in Versuchung kommen, das ist die Strategie. Anne Lipps spricht vom Rote-Ampel-Prinzip: Situationen, in denen man gefährdet ist, werden in der Therapie gemeinsam identifiziert, um sie dann zu meiden.

Anne Lipps tritt an diesem Abend fast wie eine Moderatorin auf. Anderthalb Stunden hat die Gruppe Zeit, ein Drittel ist schon um. Michael Günther protestiert nicht, als die Therapeutin verkündet, dass nun der Nächste dran sei.

Die Stieftochter angefasst

Werner Müller ist zum ersten Mal in der Gruppe. Er war sonst nur in der Einzeltherapie. „Ich komme her, damit nicht wieder solch ein Scheiß passiert“, sagt er. Als er mit seiner Frau zusammenzog, hatte sie bereits aus einer vorigen Beziehung eine vier Jahre alte Tochter. Alles war gut zunächst. Das Paar bekam noch zwei gemeinsame Kinder, bis seine Stieftochter anfing, sich vom Mädchen zur Frau zu entwickeln. Er habe sich verliebt, sagt Müller. „Ich bin ihr zu nahe gekommen.“ Zwei Mal habe er sie an Brüsten und Po gestreichelt. Beim ersten Mal sagte sie nichts, beim zweiten Mal sagte sie Nein. „Da habe ich aufgehört und sie nie wieder angefasst.“

Fünf Jahre vergingen, als wäre nie etwas passiert. Dann aber explodierte vor zweieinhalb Jahren die Bombe. Seine Stieftochter zeigte ihn zwar nicht an, aber sie ging zu einer Anlaufstelle des Jugendamts, weil sie mit dem Erlebten nicht mehr zurechtkam. Seine Frau, die selbst ein Vergewaltigungsopfer ist, trennte sich sofort, als sie erfuhr, was geschehen war.

Der Erste aus der Gruppe schaltet sich ein: „Was sagt die Stieftochter heute? Es ist ja nicht viel gewesen“, sagt Michael Günther, aus dessen Kommentar immer noch die Tätersicht spricht. „Wir haben keinen Kontakt, wir können nicht reden“, sagt Werner Müller. „Wie gehen Ihre Kinder damit um?“ – „Die wissen nichts, das ist der Wunsch meiner Frau. Ich sehe meine Kinder leider nur selten und nur im öffentlichen Raum, das verlangt sie so“, sagt Werner Müller. Er leide darunter. Auch das können die anderen nachvollziehen. „Ich bin nicht gefährlich. Bei meiner leiblichen Tochter habe ich diese Gefühle nicht.“

Das Schweigen als Problem

Werner Müller arbeitet jede Sitzung nach. Er hat seit dem letzten Mal für sich etwas verstanden: „Die Berührung war gar nicht das Schlimme für sie, sondern das lange Schweigen über fünf Jahre. Sie weiß gar nicht mehr genau, was passiert ist“, sagt er. Hätte er offen mit seiner Stieftochter gesprochen, es wäre anders gelaufen, glaubt er heute. Anne Lipps schaltet sich ein. „Das ist ein neuer Gedanke, dass das lange Schweigen problematisch war“, sagt sie und nickt nachdenklich. „Sie wollen dem wirklich auf die Spur kommen“, lobt sie Werner Müller.

Anne Lipps hatte ursprünglich eine Familientherapie angeregt, als der 48-Jährige zu ihr kam. Sie glaubt, diese hätte dazu beitragen können, dass die Familie nicht zerbricht. Was Werner Müller gemacht habe, sei ein sexueller Missbrauch der untersten Stufe, erklärt sie. Auch das Jugendamt habe das so gesehen, das die Therapie vermittelte, aber nicht die Staatsanwaltschaft einschaltete. „Die Kinder hätte man in die Therapie mit einbezogen und alles offen kommuniziert“, sagt sie. Man hätte ihnen beigebracht, wie sie sich zu wehren hätten. Diese Offenheit wäre der beste Schutz gewesen, um zu verhindern, dass etwas passiert, meint sie. Für die Ehefrau sei die Familientherapie aber nicht infrage gekommen. In dieser wäre auch die Vergewaltigung thematisiert worden, denn die Frau projiziere ihr eigenes Erleben nun auf ihren Exmann.

Anne Lipps schaut den nächsten Mann im Stuhlkreis an. Hans Kaiser räuspert sich, ein rüstiger 66-Jähriger in Jeans und einem roten T-Shirt. Jemanden, der notorisch die Hosen vor anderen herunterlässt, stellt man sich anders vor. Hans Kaiser sieht aus wie ein deutscher Rentner, der gerne im Wohnwagen Urlaub macht. „Bei mir zieht sich das durch mein ganzes Leben“, sagt der Exhibitionist. „Ich kann nicht sagen, was mich dazu bewegt, mich da so hinzustellen, aber ich habe diese sexuellen Fantasien. Ich will den Blickkontakt, das erregt mich.“ Hans Kaiser ist verheiratet, hat zwei Töchter und acht Enkel. Bis auf die Jüngsten wissen alle Bescheid über seine Ausfälle. Sie finden das nicht gut, aber sie stehen trotzdem zu ihm.

„Sie haben eine tolle Frau, aber Ihre Frau hat auch einen tollen Mann“, sagt Anne Lipps. Insgesamt 14 Einträge stehen bei Hans Kaiser im polizeilichen Führungszeugnis. Fast immer hat er sich vor Frauen entblößt. Drei Mal waren Kinder betroffen, die ihn aus einiger Entfernung sahen. Ein Vorfall an einem See, als er von Mädchen gesehen wurde, war dem Richter zu viel: Er verurteilte Kaiser wegen Kindesmissbrauchs zu einem Jahr Gefängnis. „Ich habe mich an niemandem vergangen“, sagt der Rentner. Es sei für ihn schwer gewesen zu verstehen, dass auch das Kindesmissbrauch sein kann. Die Zeit im Knast sei „furchtbar“ gewesen. „Ich war mit über 60 Jahren fast der Älteste.“ Ein Mithäftling, der auch wegen Kindesmissbrauchs saß, sei übel zugerichtet worden. „Ich hatte echt Angst“, sagt er.

Seine Tat hatte sich herumgesprochen

Auch die Zeit nach der Entlassung war hart für ihn. Als er nach einem dreiviertel Jahr nach Hause kam, hatte sich in seiner kleinen Gemeinde längst herumgesprochen, dass er ein Sexualstraftäter ist. Da habe es geheißen, jetzt müsse man die Kinder einsperren. „Dabei tue ich doch keinem was“, meint Hans Kaiser.

Seit drei Jahren ist er nun nicht mehr rückfällig geworden. „Für mich ist das eine große Hilfe, in der Gruppe offen über meine Probleme sprechen zu können“, sagt er. Lange habe er sich keine Gedanken gemacht, „was das für die Person bedeutet, wenn sie mich so sieht“. Mittlerweile sei ihm das klar. Auch er hat seine „rote Ampel“ identifiziert: Er darf nicht mehr alleine im Sommer an den See fahren. „Wenn meine Frau dabei ist, habe ich gar kein Problem.“

Anne Lipps dirigiert weiter, erteilt dem Vierten in der Runde das Wort. Er ist der Einzige, der bisher noch gar nichts gesagt hat. Christian Schmidt schaut auf seine abgekauten Fingernägel, während er spricht und erklärt, warum er sich immer wieder kinderpornografische Bilder und Videos aus dem Internet heruntergeladen hat. Zweimal ist er erwischt worden, beim zweiten Mal bekam er eine Bewährungsstrafe mit der Auflage zur Therapie. „Es geht mir weniger um das Sexuelle, ich weiß, dass die Kinder leiden, ich identifiziere mich mit ihnen“, sagt Schmidt. Auch er habe in seiner Kindheit leiden müssen. „Das ist eine Art Genugtuung für mich.“

Christian Schmidt hat seine Geschichte schon oft erzählt, aber es ist das erste Mal, dass er nicht in Tränen ausbricht. Der Ingenieur ist in seiner Kindheit zweimal ohne Vorwarnung verlassen worden. Zuerst von der Mutter, die sich plötzlich aus dem Staub machte. Dann von der älteren Schwester, die wenige Jahre später ebenfalls Hals über Kopf auszog und zur Mutter ging. „Meine Schwester war meine Ersatzmutter“, sagt Schmidt. Er habe sich ausgegrenzt gefühlt, unerwünscht, allein zurückgelassen bei einem Vater, der kaum da war. Und über Gefühle habe man bei ihm zu Hause nicht gesprochen.

„Ein gequältes Kind“

„Sie sind ein gequältes Kind, das sich gequälte Kinder anguckt“, fasst Anne Lipps zusammen. Sie habe das durchaus immer mal wieder, dass das Motiv, wie in diesem Fall, kein Sexuelles sei. Eigentlich müsste die gesamte Familie zur Therapie kommen. „Sie müssten zum Ankläger werden, das wäre für Sie ein Befreiungsschlag“, sagt die Therapeutin zu ihrem Klienten.

Michael Günther schaltet sich ein: „Was ist mit dir, hast du Angst? Gamaschen?“ Christian Schmidt zuckt mit den Schultern. „Ich habe keinen Kontakt mehr zu meiner Familie.“

„Wenn es mir schlecht ging, habe ich mich auch immer in mein Schneckenhaus zurückgezogen“, meint Hans Kaiser. Er steht als Erster auf. Er müsse zum Zug, sagt er entschuldigend. Auch die anderen verabschieden sich. Die Zeit ist um. Bis in zwei Wochen.

* Die Namen der Täter sind geändert.