Einen Tag nach seinem Geburtstag ist der junge Thomas Köfer im Degerlocher Wald verunglückt. Der Unfall jährt sich am 12. April zum zwölften Mal.

Klima & Nachhaltigkeit: Judith A. Sägesser (ana)

Degerloch - Der Baum, der es getan hat, liegt noch an der Unglücksstelle. Es scheint fast, als sei die Zeit stehen geblieben, gleichzeitig verwischt die Natur mit jedem weiteren Tag die Spuren dessen, was hier einst passiert ist. Rose Köfer nennt diesen einen Baum den Mörderbaum. Das klingt schlimmer, als sie es meint. „Er kann ja nichts dafür“, sagt die 62-jährige Frau. Dafür, dass ihr Sohn den 12. April 2000 nicht überlebt hat. Der angehende Forstwirt Thomas Köfer ist im Degerlocher Wald gestorben. Er war im dritten Lehrjahr.

 

Am Tag vorher hatte Thomas Köfer ausgelassen gefeiert. Am 11. April vor zwölf Jahren hatte der junge Mann aus Winterbach bei Schorndorf seinen 20. Geburtstag gefeiert. Sogar der Bruder war überraschend nach Hause gekommen, um persönlich zu gratulieren. Er war zu der Zeit bei der Bundeswehr, irgendwo im Bayerischen. Thomas Köfer hatte all seine Lieben um sich. „Im Nachhinein kommt es mir vor wie ein Abendmahl“, sagt seine Mutter.

Am Morgen jenes schicksalhaften Tages hat Thomas Köfer zusammen mit seinen Kollegen das Durcheinander beseitigt, das der Sturm Lothar am zweiten Weihnachtsfeiertag 1999 im Wald angerichtet hatte. Entwurzelte Bäume, angeknackste Äste: die Waldarbeiter hatten jede Menge aufzuräumen. Es muss gegen 9 Uhr gewesen sein, als Thomas Köfer einen der letzten Bäume gefällt hat.

Eine Stunde später kam der Ortspolizist

Er wird dem Baumstamm aufmerksam zugesehen haben, so wie er es gelernt hatte. Das Holz fiel – und traf auf den bereits am Waldboden liegenden Baum, den Rose Köfer später den Mörderbaum nennen würde. Der Mörderbaum schnellte zur Seite und zurück – „und da war der Kopf unseres Sohnes“, sagt Rose Köfer.

Eine Stunde später stand der Ortspolizist vor dem Elternhaus in Winterbach. Er hat den Köfers mitgeteilt, dass ihr Sohn im Krankenhaus in Stuttgart sei. Kurz darauf saßen Mutter und Vater am Bett ihres Sohnes. Sein Körper lebte noch, sein Gehirn war tot. Zwei Stunden hatten die Eltern, um sich von ihrem Kind zu verabschieden; dann wurden die Geräte abgeschaltet. „Für mich war das im Nachhinein sehr tröstlich, bei ihm zu sein, als er gestorben ist“, sagt Rose Köfer. „Für meinen Mann ist er schon im Wald gestorben.“

Wenn sie die Geschichte erzählt, die sie und ihre Familie gezeichnet hat, sind ihre Augen feucht. Plötzlich fühlt sich alles wieder an, als wäre es erst gestern gewesen. Rose Köfer sagt, dass sie nie nach dem Warum gefragt habe, dass sie sich nie den Kopf zermartert habe mit was wäre wenn. Sie hat stattdessen gelernt, das Unerträgliche zu ertragen. „Ich sage mir immer, er ist so früh geholt worden, weil er so wertvoll war“, sagt Rose Köfer.

„Er hat christlich gelebt und gedacht, denke ich heute“

Der Thomas hatte große, dunkle Augen und einen Wuschelkopf. „Er war ein zufriedenes Kind“, sagt die Mutter. „Ein richtiger Wonneproppen.“ Als er älter wurde, ist er gern geradelt, und er war gut aufgehoben in seinem Freundeskreis. Bereits als Kind ist er regelmäßig zum CVJM, dem Christlichen Verein Junger Menschen. Dabei ist die Familie nicht über Gebühr religiös, sagt Rose Köfer. Das hatte sich einfach so ergeben. „Er hat christlich gelebt und gedacht, denke ich heute“, sagt seine Mutter, „aber nicht scheinheilig oder so.“

Beim CVJM hatte Thomas Köfer Freunde gefunden, mit denen er seine Freizeit verbracht hat. Vieles von dem, was ihr Sohn erlebt hat, hat Rose Köfer erst nach seinem Tod erfahren. Seine Clique hat den Eltern ein Album geschenkt, in dem Fotos von Ausflügen und Festen kleben. Thomas beim Mountainbiken, Thomas auf einer Hütte in der Schweiz, Thomas im Wald. „Der Wald – sein Liebstes“, haben die Freunde unter das Bild geschrieben.

Der Wald war sein Leben. Schon als Junge hatte Thomas Köfer es genossen, mit dem Cousin, einem Forstwirt, Brennholz zu spalten. Er selbst wollte Forstwirt werden, weil er sich dazu berufen fühlte. „Das war sein Ding“, sagt Rose Köfer. „Er ist morgens pfeifend die Treppe runtergelaufen.“ Dabei stand ganz am Anfang auf der Kippe, ob er sich seinen Traum überhaupt erfüllen darf. Der junge Mann hatte Neurodermitis. „Da lag er heulend auf dem Bett, die Katz’ auf dem Bauch“, erinnert sich die Mutter, „er war untröstlich“. Umso seliger war sein Lächeln, als er die Zusage aus Stuttgart bekommen hat.

Feierabend war kaum mehr als ein Wort

Klaus Winkler kann sich noch gut an diesen jungen Burschen erinnern. Winkler war damals der Forstwirtschaftsmeister im Degerlocher Wald – und damit derjenige, der Thomas Köfer ausgebildet hat. „Thomas war immer voll bei der Sache, er war ein Naturmensch wie ich.“ Feierabend sei kaum mehr als ein Wort für ihn gewesen, oft sei Thomas Köfer nach Dienstschluss wieder in den Wald, um Holz für den Kachelofen daheim zu holen.

Am 12. April vor zwölf Jahren hat Klaus Winklers Handy geklingelt, kurz nachdem Thomas Köfer verunglückt ist. Die Waldarbeiter hatten sich in zwei Gruppen aufgeteilt, Thomas Köfer war mit einem anderen Kollegen unterwegs. Der Anruf ließ Klaus Winkler durch den Wald spurten.

Dieser Tag im April hat sich bei Klaus Winkler ins Gedächtnis gebrannt. Der Krankenwagen war längst weggefahren, da saßen er und die anderen noch zusammen. „Wir haben geredet und versucht, das alles zu verkraften – irgendwie“, sagt er. An Arbeit war erst mal nicht mehr zu denken, auch in den folgenden Tagen. Die Männer haben sich ganz langsam in den Alltag zurückgetastet. Klaus Winkler ist das allerdings nie mehr wirklich gelungen. Er hatte bereits in der Vergangenheit einen schweren Unfall, bei dem ihm ein dicker Ast das Schulterblatt zertrümmert hat. Und dann das mit Thomas Köfer – Klaus Winkler hat schließlich den Job gewechselt. Seit 2004 arbeitet er in Freiburg bei der forstlichen Versuchsanstalt. Er hat die Motorsäge gegen den Forschungsblock eingetauscht.

Der 11. April ist ein Anlass, sich zu treffen

Seit zwölf Jahren ist der 11. April ein Anlass für Familie, Freunde und Kollegen, sich in Winterbach zu treffen. Auch Klaus Winkler ist dann dabei. Sie feiern den Geburtstag von Thomas. „Der Zusammenhalt ist sehr stark“, sagt Rose Köfer. „Die Kollegen waren auch nicht einfach Kollegen, das war mehr.“ Sie haben einen Weg im Degerlocher Wald nach dem toten Freund benannt, und sie haben einen Gedenkstamm mit einer Tafel für ihn auf den Waldboden gelegt. Er befindet sich an der Stelle, wo der Wellingweg auf den Mörikeweg trifft. Gleich dahinter führt ein Trampelpfad in den Wald, nach vielleicht 15 Schritten ist der Ort erreicht, an dem es passiert ist.

Immer wieder zieht es Rose Köfer in den Degerlocher Wald. Plötzlich hat die Mutter das Gefühl, sie muss auf die Waldau fahren. Dann legt sie ein paar Blumen auf den Waldboden und schaut in die Wipfel. „Es ist so schön dort oben im Wald“, sagt sie. So licht und gar nicht bedrückend. Wie sehr er das alles geliebt hat, ihr Thomas. Dass er ausgerechnet im Wald gestorben ist, schließt einen Kreis.