In Tschernobyl komm macht der Bau einer riesigen Halle Fortschritte. Sie soll in einer weltweit bisher einmaligen Aktion über die Kraftwerkruine geschoben werden.

Stuttgart - Es musste schnell gehen, nachdem am 26. April 1986 Block vier des Kernkraftwerks in der Nähe der ukrainischen Stadt Tschernobyl in die Luft geflogen war. Die Ursache für diesen Super-GAU – wie sich später herausstellte eine Verkettung von unglücklichen Umständen, Bedienfehlern und Konstruktionsmängeln – war zunächst nebensächlich. Viel wichtiger war es, die Menschen aus der Gefahrenzone zu evakuieren und den entstandenen Brand mit vielen Tonnen Sand und anderem Material zu ersticken. Danach musste die Ruine halbwegs sicher eingeschlossen werden: In gerade einmal fünf Monaten Bauzeit entstand unter schwierigsten Bedingungen die als Sarkophag bezeichnete Betonhülle um den Unglücksmeiler.

 

Konzipiert war diese Notlösung für 20 bis 30 Jahre. Der Sarkophag hat nun also das Ende seiner Lebenserwartung erreicht – was sich schon seit Jahren zeigt. Die Mauern neigen sich nach außen, überall zeigt sich Rost und durch immer wieder neue Löcher gelangen Schnee und Regen ins Innere sowie Strahlung nach außen. Immer wieder mussten dringend notwendige Sicherungsmaßnahmen durchgeführt werden. So wurde die Stabilisierung der Westwand des Sarkophags, die 80 Prozent der Last des Daches aufnehmen muss, im Jahr 2008 „erfolgreich“ beendet, wie es heißt.

Dach der Turbinenhalle eingebrochen

Im Februar 2013 ist unter großer Schneelast sogar ein etwa 600 Quadratmeter großes Dachstück der Turbinenhalle von Block vier eingebrochen. Diese liegt etwa 50 Meter neben dem eigentlichen Sarkophag und war nach dem Unglück ebenfalls notdürftig abgedichtet worden. Die Behörden versuchten damals, die Öffentlichkeit zu beruhigen: Es bestehe keine Gefahr. Doch der Vorfall hatte erneut deutlich gemacht, wie brenzlig die Situation war – und wohl noch immer ist.

Von Anfang an war somit klar, dass ein neuer Sarkophag errichtet werden musste. Daher wurde knapp zehn Jahre nach dem Unglück im Dezember 1995 ein Programm verabschiedet, bei dem die damaligen G-7-Staaten und die EU der Ukraine Hilfe beim sicheren Einschluss des havarierten Blocks vier zusagten. Nach jahrelangen Diskussionen und einer großen Geberkonferenz im Jahr 2011 war dann die Finanzierung des neuen Sarkophags so weit gesichert, dass mit dem Bau begonnen werden konnte. Offiziell heißt er New Safe Confinement, was sich mit neuer sicherer Endlagerung übersetzen lässt.

Mehr als zwei Milliarden Euro Baukosten

Als Baukosten wurde damals rund eine Milliarde Euro veranschlagt. Inzwischen ist man bei deutlich mehr als zwei Milliarden Euro für die Hülle und weitere, damit verbundene Sicherungsmaßnahmen angekommen – Tendenz nach wie vor steigend. An den Kosten beteiligen sich mehr als 45 Länder und Organisationen. Erst im März hatt die bundesdeutsche Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) bei einem Besuch verkündet, dass Deutschland zusätzlich zu den bereits gezahlten 120 Millionen Euro in den nächsten Jahren noch einmal 19 Millionen zur Sicherung des maroden Reaktors beisteuern will.

Die Herausforderung, die nach wie vor heftig strahlende Kernkraftwerksruine mit einer neuen Hülle zu sichern, ist gewaltig. Rein technisch gesehen ist der Sarkophag eine wirklich beeindruckende und weltweit einmalige Leistung. Weil man die erforderlichen Arbeiten in unmittelbarer Nähe des havarierten Kraftwerks wegen der hohen Strahlung niemandem zumuten kann und will, wird seit inzwischen mehr als zwei Jahren eine riesige mobile Halle gebaut.

Gigantische Halle

Nach Angaben der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), die für die finanzielle Abwicklung des Mammutprojekts verantwortlich zeichnet, ist die mobile Hülle etwa 110 Meter hoch, 162 Meter lang, 257 Meter breit und insgesamt 36 479 Tonnen schwer. Sie könnte zum Beispiel die riesige Kathedrale Notre Dame in Paris umschließen. Errichtet wird die Halle in halbwegs sicherer Entfernung zu Block vier – und nach ihrer Vollendung auf Schienen über den maroden Sarkophag geschoben.

Ein großes Problem bei der Montage ist, dass die Stärke der Strahlung mit dem Abstand vom Boden zunimmt. Daher wollten die Ingenieure Bauarbeiten in Höhen von mehr als 30 Metern so weit wie möglich vermeiden. So haben sie einen ganz besonderen Bauprozess entwickelt: Zunächst wurde das bogenförmige Dach der Osthälfte des neuen Sarkophags aus vorgefertigten Teilen zusammengebaut und anschließend mit hydraulischen Pressen angehoben. Dann wurde weitergebaut und erneut angehoben, bis schließlich die vorgesehenen rund 110 Meter Höhe erreicht waren. Anschließend war die westliche Hälfte dran. Mitte 2015 wurden dann die beiden Hälften zusammengefügt.

Wie auf aktuellen Fotos zu sehen ist, überragt die Halle inzwischen gut sichtbar alle anderen Bauwerke in der Umgebung – auch den havarierten Block vier. Dort muss später allerdings noch der Kühlturm abgebaut werden, damit die Halle über den alten Sarkophag geschoben werden kann. Nach derzeitiger Planung soll die neue Hülle im November des kommenden Jahres fertig sein.

Zwei riesige Kransysteme

Im Innern wird die Halle derzeit unter anderem mit zwei riesigen, je 96 Meter langen Brückenkransystemen ausgerüstet. Damit sollen die zukünftigen Aufräumungs- und Abbrucharbeiten im Unglücksreaktor bewerkstelligt werden. Die Kräne fahren auf Schienen am Boden sowie auf parallel verlaufenden Schienen an der Decke der neuen Hülle. Die gesamte Konstruktion soll die bisher größte ihrer Art sein.

Erst wenn alles fertig ist, kommt der spektakuläre Transport der riesigen Stahlhalle: Das ganze Bauwerk soll auf Schienen rund 330 Meter weit an seinen endgültigen Platz über dem alten Sarkophag geschoben werden – ebenfalls eine gewaltige technische Herausforderung. Anschließend soll es den zerstörten Reaktor vor Regen und Schnee schützen sowie radioaktiven Staub von der Umwelt fern halten. Und das hundert Jahre lang, versprechen die Ingenieure. Dabei soll die neue Hülle möglichen Unfällen – etwa einem Feuer im Inneren – genauso widerstehen wie zu erwartenden Naturgefahren, etwa schweren Schneefällen oder heftigen Winden, ja sogar einem mittelstarken Tornado.

Eine ausgeklügelte Klimatisierung soll für trockenere und wärmere Luft als außerhalb der Hülle sorgen und somit helfen, tropfendes Kondenswasser zu vermeiden. Dies soll auch dazu beitragen, dass das Stahlgerüst nicht frühzeitig rostet. Irgendwann in – vermutlich eher ferner – Zukunft soll dann unter der Schutzhülle mit dem Abbruch und der „endgültigen“ Sanierung der strahlenden Ruine begonnen werden.