Hat sich U2 an Apple verkauft? Ohne Vorankündigung veröffentlicht die Band ihr neues Album „Songs of Innocence“, lässt es aber nur über I-Tunes vertreiben, wenn auch gratis. Das wirft ein zweifelhaftes Licht auf ihre künstlerische Unabhängigkeit.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Los Angeles - Absurder könnte die Idee auf den ersten Blick nicht sein: Eine weltberühmte Rockband legt nach ziemlich langer Zeit endlich wieder ein neues Album vor – und verschenkt es dann rund um den Globus, wohlgemerkt mit ausdrücklicher Zustimmung der Plattenfirma. Seit Mittwoch ist „Songs of Innocence“, das neue Werk von U2, kostenlos für alle fünfhundert Millionen Nutzer der Downloadplattform I-Tunes erhältlich. Und für den Rest der Welt, der nicht zu den Apple-Kunden zählt, nunmehr auch: auf unzähligen, sich nahezu sekündlich vermehrenden Youtube-Seiten, auf denen das komplette Album erwartungsgemäß binnen kürzester Zeit auftauchte.

 

Der überraschende Verkündigungstermin hierfür war eine Produktpräsentation, zu welcher der Computerhersteller Apple am Dienstagabend in Kalifornien eingeladen hatte (siehe StZ vom 10. September). Mit Pomp wurde dabei das Kind aus der Taufe gehoben. Apple zahlt dem Musikkonzern Universal, bei dem die Band U2 unter Vertrag ist, dafür einen Festpreis in unbekannter Höhe, der aber laut „Wall Street Journal“ deutlich unter dem Großhandelseinkaufspreis liegen soll. Das Album wird dafür fünf Wochen lang kostenlos bei I-Tunes bereitgestellt, ehe es am 14. Oktober dann ganz regulär in den Handel kommen wird.

Apple gedenkt die neuen Songs derweil für seine aktuellen Werbeclips zu nutzen und erhofft sich einen kräftigen Schub an Neukunden bei seinen Online-Musikvermarktungsplattformen. Die Plattenfirma streicht die Garantiesumme ein und spekuliert zudem darauf, so auch die Verkäufe ihres vorhandenen 13 Alben starken U2-Repertoirekatalogs anzukurbeln. Die Band wiederum macht hervorragend Reklame für ihre wahrscheinlich im kommenden Jahr anstehende Welttournee, dazu verdient sie schon jetzt ein hübsches Sümmchen an ihrem neuen Album, ehe nur ein Exemplar davon verkauft ist. Alle drei Beteiligten erfahren überdies ungeheure Publicity.

Teil eines neuen Weltrekords

Aber die Fans können ebenfalls zufrieden sein, hat doch das monatelange Rätselraten um den Veröffentlichungszeitpunkt ein Ende. Nun bekommen sie das erste U2-Studioalbum seit fünf Jahren in voller Länge geliefert, ohne dafür einen Cent bezahlen oder zu einer Raubkopie greifen zu müssen. Und Musikern wie Computerkonzern und Plattenfirma ist gemeinsam, Teil eines neuen Weltrekords zu werden: dem „Biggest Release in the History of Music“, als den der Apple-Chef Tim Cook diesen Coup mit stolzgeschwellter Brust ankündigte. So gesehen handelt es sich um eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten.

Ein Blick hinter die Fassaden wirft allerdings ein anderes Licht auf die Situation. Apple musste klar sein, dass dieses Album nicht nur den Kunden seiner exklusiven I-Tunes-Vertriebswege zugänglich sein, sondern wenige Stunden später zigfach „geleakt“ werden würde. Der bedenkliche Weg zur einkalkulierten Urheberrechtsverletzung ist da nicht mehr weit. Universal wird ebenfalls gerechnet haben. Selbst bei Weltstars wie der irischen Band fällt es Plattenfirmen mittlerweile schwer, mit Tonträgern Geld zu verdienen. 4,4 Millionen Exemplare hat Universal in den USA noch im Jahr 2000 vom U2-Album „All that you can leave behind“ verkauft, 3,3 Millionen vom 2004 erschienenen „How to dismantle an Atomic Bomb“ und nur noch 1,1 Millionen Exemplare vom bisher letzten Album „No Line on the Horizon“ von 2009, wie das Forschungsinstitut Nielsen Soundscan berichtet.

Nachdem die beim Super Bowl, dem Endspiel um die amerikanische Footballmeisterschaft, vorgestellte Vorabsingle „Invisible“ etwa in den deutschen Charts nur auf Rang 48 gelandet war, mag sich der Musikmulti da womöglich gedacht haben, dass er lieber den Spatz in der Hand von Apple als die Taube auf dem Dach der flatterhaften „Konsumenten“ nimmt, als welche die Industrie gerne die für Kulturgut bezahlenden Musikfreunde bezeichnet.

Schlechtes Vorbild

Die Band selber wiederum, die übrigens schon vor Jahren ihren Sitz aus steuerlichen Gründen in die Niederlande verlegte, liefert von einer sehr gönnerhaften Warte ein denkbar schlechtes Vorbild für alle Musiker, die tatsächlich versuchen, mit Schallplattenverkäufen ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dass zudem ausgerechnet die Band ihre Seele an eine Reklamekampagne verkauft, deren Vorsteher Bono erklärtermaßen als Gutmensch bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Welt zu verbessern trachtet, sei nur am Rande vermerkt.

Die Hörer schließlich dürfen sich über die Gratislieferung freuen, vielleicht sogar im guten Glauben, mit ihrem sauer verdienten Geld nicht auch noch das Luxusleben echter Spitzenverdiener finanzieren zu müssen. Sie dürfen sich allerdings auch fragen, ob sie nicht monatelang bewusst von ihren Idolen hingehalten wurden, die erst einmal ausloten wollten, wie maximaler Profit zu erzielen ist. Ob sie hier nicht vielmehr ein „Geschenk“ von Musikern erhalten, die ein Album nicht als künstlerisches Produkt publizieren, sondern es eher als Werbung für ihre gewinnbringende Tournee einsetzen. Und ob es nicht eigentlich eine ziemliche Entmündigung der „Konsumenten“ ist, wenn Apple dieses Album, wie jetzt geschehen, nicht etwa zum Gratisdownload anbietet, sondern es ungefragt seinen Kunden in deren I-TunesBibliothek hinzufügt.

Es gab schon einige Musiker, die ihre Musik auf unkonventionelle Weise veröffentlicht haben. Die Nine Inch Nails etwa hatten „The Slip“ kostenlos zum Download angeboten, weil sie sich mit ihrer Plattenfirma überworfen hatten. Prince ließ sein Album „Planet Earth“ vor der Veröffentlichung der britischen Zeitung „Mail on Sunday“ beilegen, um die Plattenindustrie zu ärgern. Die Band Radiohead veröffentlichte ihr Album „In Rainbows“ zunächst als interessantes Experiment mit der Maßgabe auf ihrer Homepage, dass jeder für den Download den ihm angemessen erscheinenden Preis zahlen möge. Alle diese Alben fanden hinterher aber auch im Plattenladen noch ihre Käufer. Wer warum in fünf Wochen noch das „neue“ Album „Songs of Innocence“ von U2 kaufen soll, wissen nur die Popgötter.