Merci für all’ die schönen Lieder: Kurz nach seinem 80. Geburtstag ist der Chansonnier und Entertainer Udo Jürgens überraschend an Herzversagen gestorben. Ein Nachruf von Kultur-Ressortleiter Tim Schleider

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Wie kann das sein? Es ist noch keine zwei Monate her, da sahen wir Udo Jürgens in der ausverkauften Schleyer-Halle. Er feierte in Stuttgart die Premiere zu seiner aktuellen Deutschland-Tournee, und wohin man auch hörte, mit wem auch immer von den 10 000 Besuchern man sich hinterher unterhielt, alle waren sich einig: Das war eines der besten Konzerte, die man mit dem österreichischen Entertainer je erlebt hatte – locker, elegant, musikalisch und textlich anspruchsvoll, leicht, intensiv, in jeder Minute spannend, charmant, respektvoll. Ein Liedersänger deutscher Sprache. Nein, ein deutschsprachiger Chansonnier.

 

Eine singuläre Erscheinung

Wer hätte sich an diesem Freitagabend in Stuttgart vorstellen können, dass knapp zwei Monate später just dieser Sänger bei einem Spaziergang bewusstlos zusammenbricht und wenig später im Krankenhaus an Herzversagen stirbt? Sicher, bei einem gerade achtzig Jahre alt gewordenen Menschen muss man auch damit rechnen. Aber doch nicht nach derart viriler Präsenz bei drei Stunden Livekonzert! Doch nicht bei einem Künstler, der in den zahlreichen Shows und Dokumentationen eben zu jenem Achtzigsten am 30. September immer wieder zu Protokoll gab: „Ich weiß natürlich, dass auch für mich irgendwann Schluss ist. Aber noch spüre ich viel Kraft in mir, noch will ich nicht aufhören.“

Udo Jürgens – eine völlig singuläre Erscheinung im deutschen Showgeschäft. Es gibt keinen anderen, der mehr als fünfzig Jahre bei fast durchgängigem Erfolg und gleichbleibender Qualität auf der Bühne stand. Es gibt keinen anderen, der bei allen Ausflügen in fremde Sprachen und trotz aller Verlockungen ausländischer Plattenfirmen doch stets den deutschsprachigen Texten treu blieb – weil er sich eben in erster Linie als „Liedersänger“ sah, „und ein Lied muss eine Geschichte haben, und diese Geschichte muss mein Publikum verstehen“.

Es gibt keinen anderen, dem es in jedem Jahrzehnt seines Schaffens gelungen ist, einen neuen Stil, einen neuen Pfiff, einen aktuellen, „neuen Udo“ zu kreieren. Und es gibt keinen anderen Künstler in diesem Land, dessen Lieder viele Menschen sofort erkennen, mitsummen können, der nicht nur große Bühnen, sondern zeitweise Stadien unterhalten konnte – und dem man trotzdem stets abnahm, dass es ihm bei aller Unterhaltung doch auch um etwas mehr ging. Nein, die Gesellschaft verändern zu können, das maßte sich Udo Jürgens niemals an. Aber in den Menschen zumindest eine Ahnung von Anstand, Selbstbewusstsein und vom besseren Leben anklingen zu lassen, das traute er sich zu. Das sah er als seine Künstleraufgabe.

Der große Durchbruch ließ auf sich warten

Aus kleinen Verhältnissen stammt Udo Jürgen Bockelmann, 1934 in Klagenfurt geboren, wahrlich nicht. Die Bockelmanns sind eine reich verzweigte Sippe aus deutsch-österreichischen Politikern, Bankiers, Managern. Erfolg ist diesen Kreisen geläufig, auch der Wert der Kunst. Aber dass man ebenso ernsthaft wie erfolgreich auch Unterhaltungskunst betreiben kann, dies mochte man dem schlaksigen jungen Mann, der immerhin in Klagenfurt und in Salzburg sehr klassisch Klavier und Komposition studiert hatte, nur ungern zugestehen. In einer seiner Geburtstagssendungen erzählte der Sänger unlängst, in jungen Jahren habe ihm ein reicher Hamburger Onkel, bei dem er zu Besuch war, abends Geld in die Hand gedrückt, damit er sich in der Stadt eine vergnügte Zeit machen konnte, weitab von der vornehmen Abendgesellschaft, die er sonst in der Villa womöglich gestört hätte.

Aber es ging ja auch anfangs gar nicht leicht mit dieser Sängerkarriere. Mit 16 Jahren gewann Udo Jürgens zwar einen Talentwettbewerb beim österreichischen Rundfunk. Aber dann entdeckte er seine eigenen Ansprüche. Just in einer Zeit, da der deutsche Schlager seine Nachkriegspopularität errang, als sich Rex Gildo, Cornelia Froboess, Caterina Valente oder die junge Gitte pausbäckig ihren ersten Ruhm erträllerten, suchte Jürgens in den Musikstudios nach einem eigenen, anspruchsvolleren Weg, suchte nach einer Schnittmenge zwischen deutschem Lied, französischem Chanson, amerikanischem Entertainment. Seine Kollegen erkannten zwar sein Talent, bei zahllosen Auftritten in der Provinz war er für jeden bunten Abend gut. Allein, der große Durchbruch beim Publikum ließ auf sich warten. „15 Jahre sind lang“, fasste Jürgens später diese Phase zusammen. „Heutzutage würde keine Plattenfirma dieser Welt einem Nachwuchskünstler noch so viel Zeit geben“.

Zwischen Disco und böser Gesellschaftskritik

Was dann kommt, ist wohl bekannt, oft beschrieben: „17 Jahr, blondes Haar“ wird 1965 der erste große Plattenerfolg in Deutschland. „Merci Chérie“ wird der erste Platz beim Eurovision Song Contest 1966 in Luxemburg. Vor dem Auftritt ist Jürgens so aufgeregt, dass er mit Ohnmacht kämpft. Nach dem Auftritt bekommt er Konzertangebote aus der ganzen Welt.

Seitdem hat er in Deutschland durchgängig Erfolg. Mal macht er auf Disco („Ich weiß, was ich will“), mal auf satirische Milieustudie („Aber bitte mit Sahne“), mal auf böse Gesellschaftskritik an verantwortungslosem Reichtum und Kriegstreiberei („Lieb Vaterland“).

„Griechischer Wein“ ist 1975 keineswegs, wie manche immer noch glauben, ein sentimentaler Urlaubsschlager, sondern ein großes, melancholisches Stück über die Einsamkeit der sogenannten Gastarbeiter in der alten Bundesrepublik. In Griechenland selbst hat dieser Song längst den Status eines Volksliedes. Ach ja, vor zwei Monaten in der Schleyer-Halle hat Jürgens auch ihn wieder gesungen – im ersten Teil stark verlangsamt, verzögert, dann zum Schluss hin in einem unerwarteten Crescendo immer tänzerischer, immer furioser zugespitzt. Phänomenal.

Ein kleiner dunkler Fleck in der Diskografie

Es ist unmöglich, die Liste seiner Erfolge aufzuführen. Über 1000 Titel hat er geschrieben, mehr als 50 Alben veröffentlicht, über 105 Millionen Tonträger verkauft. Die Zahl seiner Hits reichte irgendwann locker, um daraus ein sehr erfolgreiches Musical zu stricken: „Ich war noch niemals in New York“. Er zählt zu den erfolgreichsten männlichen Solokünstlern der Welt. Und wenn die deutschen Großfeuilletons in den Jahren nach Adorno nicht so entsetzlich lang gebraucht hätten, um den eigenen Wert und die eigene Qualität der Unterhaltungskunst zu erkennen, statt darin immer nur Verdummung zu sehen, dann hätten sie diese Ausnahmekarriere auch schon etwas früher zu würdigen gewusst als jüngst erst zu seinem Achtzigsten.

Udo Jürgens wollte nie etwas anderes machen als Unterhaltung. Aber: „Es muss auch Haltung dabei sein. Die steckt nicht umsonst im Wort Unterhaltung mit drin.“ Und wenn es in dieser singulären Karriere überhaupt einen kleinen dunklen Fleck gibt, dann ist es dieser: Der kommerziell erfolgreichste Udo-Jürgens-Hit aller Zeiten ist „Buenos Dias Argentina“, jene etwas sentimentale Schmacht-Ode aus dem Jahr 1978, bei dem die deutsche Fußball-Nationalmannschaft im Hintergrund mitbrummt. Damals führten in Buenos Aires die Militärs ein blutiges Regime, Andersdenkende in nie geklärter Zahl wurden umgebracht. Jürgens machte es sich hinterher sehr zum Vorwurf, ebenso wie die DFB-Kicker, hier kein klares, noch nicht mal ein verstecktes Wort des Protestes gefunden zu haben. In seinen späteren Konzerten sang er stets auch die alten Hits, „Buenos Dias Argentinia“ ließ er zumeist aus.

Seine Musik klingt weiter

Ja, seine Konzerte – noch ein Phänomen. Playbacks waren ihm ein Gräuel. Es wäre ihm auch mit 70 oder 80 Jahren nie in den Sinn gekommen, nur noch die Lippen zu bewegen. Das Bühnenorchester seiner Wahl war stets die Schweizer Pepe Lienhard Band, auch zuletzt in Stuttgart. Zu jedem Lied eine kleine Geschichte, zu jeder Geschichte ein kleiner nachdenklicher Kommentar. Auf dem Klavier ein Glas mit Kamillentee für die Stimme. Die letzte Zugabe im weißen Bademantel, ohne Orchester, er allein zusammen mit den Fans ganz vorn an der Bühne. Momente des Glücks für diese Fans, ganz sicher auch für ihn.

Zweimal war Udo Jürgens verheiratet, vier Kinder hat er. Am Sonntag starb er mit 80 Jahren im Spital Münsterlingen in der Schweiz. Gibt es für die Familie, Freunde und Fans angesichts dieses jähen Abschieds irgendeinen Trost? Nun, der Tod kam zu einer Zeit, da sich der Sänger ganz auf der Höhe seiner Kunst befand und Familie, Freunden und Fans denkbar nah war. Sein Herz mag versagt haben.

Seine Musik klingt. Egal, welche CD man heute oder morgen oder irgendwann auflegt, welcher Titel auch immer im Radio erklingt: Es ist die allerbeste Unterhaltung.