Als „Henker von Warschau“ ließ Heinz Reinefarth Tausende töten, später wurde er Bürgermeister auf Sylt und sogar Landtagsabgeordneter. Erst jetzt, 70 Jahre nach dem Warschauer Aufstand, stellen sich die Insulaner der Vergangenheit.

Westerland - Das Rathaus von Westerland mit seinen Spitztürmen und dem gewaltigen Dachstuhl könnte man leicht für ein überdimensioniertes Bahnhofsgebäude halten. Auf Sylt jedoch macht man sich mit solch einem Vergleich keine Freunde, denn die Insulaner sind sehr stolz auf den unter Denkmalschutz stehenden Bau aus dem Jahre 1897, der neben der Inselverwaltung auch einen großen Kursaal, eine Spielbank und eine Galerie beherbergt. Ein Ort mit Geschichte sei dieses Haus, sagen die Sylter.

 

Ein dunkler Teil der Geschichte dieses Gebäudes aber wurde über viele Jahrzehnte hinweg auf der Insel verdrängt. Die Tatsache nämlich, dass Heinz Reinefarth, der von 1951 bis 1963 als Bürgermeister von diesem Rathaus aus die Geschicke Westerlands lenkte, ein NS-Kriegsverbrecher war. Reinefarth, SS-Nummer 56634, war als Generalmajor der Waffen-SS für die Niederschlagung des Warschauer Aufstandes im August 1944 verantwortlich. Der „Henker von Warschau“, wie er in Polen genannt wird, befehligte damals zwölf Polizeikompanien, die mehr als 10 000 Männer, Frauen und Kinder töteten.

1957 hatte ein Film der DDR-Dokumentaristen Annelie und Andrew Thorndike die braune Vergangenheit des Bürgermeisters öffentlich gemacht. Als die westdeutsche Presse darüber berichtete, schwiegen die Inselbewohner trotzig. Auch in den folgenden Jahren, wenn die Medien oder ab und zu auch mal ein Politiker die SS-Vergangenheit Reinefarths kritisch ansprachen, gab dies keinen Widerhall auf Sylt.

Eine Gedenktafel am Rathaus soll enthüllt werden

70 Jahre nach Beginn des Warschauer Aufstandes wird das Schweigen durchbrochen. Am 1. August soll am Westerländer Rathaus eine Gedenktafel enthüllt werden, auf der erstmals öffentlich die Mitverantwortung des einstigen Bürgermeisters für die Kriegsverbrechen in Polen eingestanden wird.

In Gang gebracht hat das späte Sylter Bekenntnis ein polnischer Hobbyhistoriker. Der Mann hatte einer Pastorin der Insel Anfang des Jahres einen Brief geschrieben und darin gefragt, ob sie wisse, was für ein Mensch der einstige Bürgermeister Reinefarth gewesen sei. Und der Pole wollte auch wissen, welche Möglichkeiten es gebe, die Schuld des „Henkers von Warschau“ und das Schweigen der Insel über ihren Kriegsverbrecher aufzuarbeiten.

Eine Frage, mit der vor vielen Jahren schon Ernst-Wilhelm Stojan, sozialdemokratisches Urgestein auf der Insel, an den Syltern gescheitert war. Der heute 88-Jährige war lange Zeit Bürgervorsteher von Westerland. Er ist einer der wenigen, der noch zu Amtszeiten Reinefarths gegen den Bürgermeister vorgehen wollte. Aber damals bekam er selbst von der eigenen Fraktion keine Unterstützung. „Reinefarth war freundlich und zugewandt, die Leute haben ihn gemocht“, erinnert sich Stojan heute. „Er kümmerte sich, brachte den Ort voran. Man konnte sich bestens über Politik mit ihm unterhalten, aber wenn es um seine Vergangenheit ging, blockte er stets ab. Und kaum einer störte sich daran.“

Sie schwiegen aus Scham über die eigene Mitverantwortung

Christoph Bornemann, Pastor in Westerland und Vorsitzender des dortigen evangelischen Kirchengemeinderats, hat Verständnis für die Verdrängungshaltung vieler Insulaner. „Die Generation, der auch Reinefarth angehörte und die selbst vom Krieg traumatisiert war, schwieg aus Selbstschutz und vielleicht auch aus Scham über die eigene Mitverantwortung, der man sich nicht stellen wollte“, sagt Bornemann, der seit 27 Jahren auf Sylt lebt. „Die Nachfolgenden wuchsen mit den Kindern und Enkeln der Reinefarths auf, die geachtet und bekannt waren auf der Insel. Da stellt man sich in einem so kleinen Ort wie Westerland nicht einfach gegen Mitmenschen, zumal Reinefarth wegen seiner Taten nie verurteilt wurde.“

Tatsächlich ist der frühere SS-General in der Bundesrepublik juristisch nie zur Verantwortung gezogen worden. Zwar gab es zwei Ermittlungsverfahren gegen ihn, aber die verliefen im Sande. Stattdessen beförderte ihn seine Partei, der stramm rechte „Bund der Heimatlosen und Entrechteten“ (BHE), 1951 mit den Stimmen der CDU in das Amt des Westerländer Bürgermeisters. 1958 wurde Reinefarth sogar Landtagsabgeordneter in Kiel und damit der einzige ehemalige SS-General in einem deutschen Parlament.

Die Frage von Schuld wird öffentlich diskutiert

Aber auch wenn die Sylter nie offen über die NS-Vergangenheit des 1979 verstorbenen Reinefarth gesprochen haben, bedeute dies nicht, dass alles vergessen war, sagt Pastor Bornemann. „Der Umstand, dass ein Kriegsverbrecher so lange Bürgermeister von Westerland sein konnte, wurde immer als Makel empfunden.“ Im Kirchengemeinderat löste der Anfang des Jahres eingegangene Brief des polnischen Historikers eine intensive Diskussion darüber aus, wie man die Frage von Schuld und Verantwortung in die öffentliche Diskussion bringen könnte. „Schließlich waren wir uns einig, dass der anstehende Jahrestag des Warschauer Aufstands ein guter Anlass sei, ein Zeichen des Bedauerns und der Versöhnung zu setzen“, sagt Bornemann. In einem Brief an den Gemeinderat regte die Kirche dafür ein „sichtbares Zeichen“ im Ort an. Ein Gedenkstein auf dem Rathausvorplatz etwa, dessen Inschrift eine Antwort auf die immer wieder gestellten Fragen nach dem Umgang Westerlands mit dem Kriegsverbrecher Reinefarth geben sollte.

Im Kulturausschuss des Gemeinderats wurde die Initiative der Pastoren Anfang März verhalten aufgenommen. Vor allem die CDU-Vertreter drangen darauf, dass der Gedenkstein nur auf den Warschauer Aufstand hinweisen sollte, nicht jedoch auf die Person Reinefarth, seine Beteiligung an der Niederschlagung und seine folgende Rolle in Westerland. Schließlich müsse man die Persönlichkeitsrechte beachten, „und überhaupt – so etwas macht man nicht“, wie der christdemokratische Bürgervorsteher damals sagte. Auch sollte der Stein nicht am Rathaus, sondern auf dem Westerländer Friedhof errichtet werden, wo Gräber polnischer Zwangsarbeiter angelegt sind. Gerd Nielsen, SPD-Fraktionschef im Westerländer Rathaus, aber stellte sich gegen diese Pläne. „Im Ältestenrat habe ich gesagt, dass wir uns nicht mehr verstecken dürfen“, sagt der 60-Jährige. „Nach all den Jahrzehnten der Verdrängung müssen wir uns nun endlich im öffentlichen Raum der Frage stellen: Wie konnte Reinefarth hier Bürgermeister werden?“ Auch müsse die Inschrift einer Gedenktafel deutlich machen: „Hier ging dieser Mensch rein, und die anderen haben es ihm ermöglicht.“

Wie konnte Reinefarth hier Bürgermeister werden?

Nielsens Appell fruchtete. Der Gemeinderat berief einen Arbeitskreis, dem neben den Fraktionsvorsitzenden auch Vertreter der Kirche, des Tourismusverbandes und ein Rechtsanwalt angehörten. „In einer unserer Beratungen haben wir auch mit einem Enkel von Heinz Reinefarth über das Thema gesprochen“, erinnert sich Nielsen. „Die Familie lebt ja noch auf der Insel, und natürlich ist es für sie sehr schmerzlich, dass nun öffentlich auf die Kriegsverbrechen des Bürgermeisters hingewiesen wird. Aber darauf konnten und durften wir keine Rücksicht nehmen.“

Einstimmig billigte der Gemeinderat schließlich den Text der Tafel, auf dem nun in deutscher und polnischer Sprache der mehr als 100 000 Männer, Frauen und Kinder aus Polen gedacht wird, die während der Niederschlagung des Aufstands von den deutschen Besatzern verletzt, geschändet und ermordet wurden. Und dann folgen die zwei Sätze, vor denen sich Sylt so lange gedrückt hat: „Heinz Reinefarth, von 1951 bis 1963 Bürgermeister von Westerland, war als Kommandeur einer Kampfgruppe maßgeblich mitverantwortlich für dieses Verbrechen. Beschämt verneigen wir uns vor den Opfern des Warschauer Aufstandes und hoffen auf Versöhnung.“

Die Aufarbeitung ist noch nicht beendet

Zeitgleich mit der Einweihung soll im Westerländer Rathaus eine Wanderausstellung über deutsche NS-Verbrechen eröffnet werden. Wenige Tage später wird zudem der Schweizer Historiker Philipp Marti im Gemeindesaal der Kirchengemeinde aus seinem Buch „Der Fall Heinz Reinefarth“ lesen. Auch die Reise einer Delegation von Westerländer Bürgern nach Warschau wird derzeit vorbereitet.

„Ich bin sehr froh, dass unsere Gemeinde so einvernehmlich ihr langes Schweigen zum Fall Reinefarth gebrochen hat“, sagt der SPD-Mann Gerd Nielsen. „Es ist spät, eigentlich sogar viel zu spät, dass wir das geschafft haben.“ Für Pastor Bornemann ist damit aber die Aufarbeitung noch nicht beendet. „Auch der Landtag in Kiel sollte den Fall seines ehemaligen Abgeordneten Reinefarth zum Anlass nehmen, die eigene braune Vergangenheit kritisch aufzuarbeiten“, sagt er. Auch müsse sich die nordelbische Kirche mit der Frage beschäftigen, wie sie nach dem Krieg mit Schuld und Aufarbeitung umgegangen ist. „Der Fall Reinefarth“, sagt Bornemann, „ist noch längst nicht abgeschlossen.“