Die Temperaturen sinken, der erste Schnee fällt. Viele Menschen haben nun das Bedürfnis, die Vögel im Garten oder auf dem Balkon zu füttern. Doch wie sinnvoll ist die Fütterung der Vögel im Winter?

Stuttgart - Die Tischmanieren lassen ein wenig zu wünschen übrig. Ohne auch nur eine Sekunde Pause einzulegen, schaufelt sich der Typ mit der schwarzen Kapuze leckere Speisen in den Schnabel. Das meiste davon schleudert er gleich wieder weit weg. Das macht aber nichts, unten am Boden hüpft eine braun gekleidete Schar und liest alles auf, was von oben kommt und genießbar scheint. Auch der schwarz gewandete Würdenträger ist sich nicht zu fein und mischt sich unter die krakeelende Gruppe. Wer eine Futterstation für Vögel auf dem Balkon oder im Garten hat, beobachtet jeden Tag neue Episoden dieser Soap Opera über das Leben in einer Suppenküche für Federträger: Oben fliegen pausenlos Kohlmeisen mit schwarzem und Blaumeisen mit blauem Gefieder am Hinterkopf zum Silo und picken sich Sonnenblumenkerne und Weichfutter heraus. Unten streiten sich Sperlinge in ihrem hübschen, braunen Gefieder um alles, was von oben kommt. Auch Amseln in ihrem schwarzen Gefieder picken den einen oder anderen Krümel auf.

 

Im Winter in mehr oder weniger aufwändigen Häuschen oder Silos auf Balkonen, in Hinterhöfen, auf Terrassen und in Gärten Vögel zu füttern, ist längst eine Art Volkssport. Ob diese Massenbewegung aber den Empfängern der milden Gaben wirklich unter die Flügel greift? Der Vogelschutz-Referent in der Berliner Zentrale des Naturschutzbundes Deutschland (NABU) Lars Lachmann glaubt das nicht so recht: „Das Füttern von Vögeln im Winter löst vermutlich keine Artenschutz-Probleme“, meint der Ornithologe. Schließlich kommen an die Vogelhäuschen eher häufige Arten wie Meisen und Sperlinge. Vor allem aber liegen die Probleme vieler Arten eher im Frühjahr und Sommer, wenn sie weder einen sicheren Ort, noch genug Kraftfutter in Form von Raupen und anderen Tierchen finden, um ihren Nachwuchs groß zu ziehen. Wenn Naturschutzorganisationen wie der NABU oder sein Schwesterverband LBV in Bayern trotzdem empfehlen, im Winter Vögel zu füttern, hat das einen ganz anderen Grund: „Das Vogel-Silo auf dem Balkon oder im Hinterhof ist ein tolles Erlebnis und viele Menschen finden so leicht einen Draht zur Natur“, erklärt Lars Lachmann. Gleichzeitig übernimmt man mit dem Vogelhäuschen aber auch eine Verantwortung, weil sich die Tiere an den Futterplatz gewöhnen. Gibt es dort plötzlich für einige Zeit nichts Fressbares mehr, findet eine jeden Tag hungrige Meise oft nicht schnell genug eine Alternative und kommt in Schwierigkeiten. Wer im Winter ein paar Wochen weg ist, sollte daher seinen Nachbarn bitten, nicht nur die Zimmerpflanzen zu gießen, sondern auch den Futtersilo auf dem Balkon aufzufüllen.

Futterplatz sorgfältig wählen

Auch der Futterplatz sollte sorgfältig ausgewählt werden. „Am besten nimmt man ein Futter-Silo“, meint Lars Lachmann. In dieses passt oft gleich eine Wochenration. Wenn sich die Meisen oder in der Nähe eines Parks vielleicht auch ein Kleiber dann ihre Portionen abholen, rutscht von oben gleich Nachschub nach unten. Statt auf Stühlen sitzen die Vögel dann auf kleinen Stangen und verunreinigen so mit ihrem Kot nicht etwa den Boden eines herkömmlichen Vogelhäuschens, in dem die Piepmatze eifrig herumhüpfen. Ein Futter-Silo beugt also auch Infektionskrankheiten bei Vögeln vor.

Gefahren lauern auch in Fensterscheiben, die aufgeschreckte Vögel leicht übersehen und sich dort schwer verletzen können. Deshalb sollte die Station möglichst weit von der nächsten Scheibe entfernt installiert und das Glas zusätzlich mit einem aufgeklebten, ultravioletten Muster gut für Vogelaugen sichtbar gemacht werden. Praktisch ist beim Füttern im Garten auch ein Busch in zwei oder drei Metern Entfernung, in den man flüchten kann, sollte ein Sperber es auf die Vögel am Silo abgesehen haben. Vor allem aber sollte das Futter-Silo weit außerhalb der Reichweite von Katzen und damit des schlimmsten Vogelfeindes in Siedlungen angebracht werden.

„Ich selbst fange schon im November mit dem Füttern an“, verrät Lars Lachmann. In dieser Zeit entscheiden sich nämlich typische Gäste beim Vogelfutter wie Meisen, ob sie in mildere Gefilde ziehen oder nicht. Diese Entscheidung erleichtert man den Vögeln mit einem gedeckten Tisch natürlich sehr. Im März, oder spätestens wenn der Schnee schmilzt, endet die Futtersaison, dann finden die Vögel in der Natur selbst genug. Die Tiere beginnen jetzt eifrig an Nachwuchs zu denken. Gut über den Winter gefütterte Vögel könnten kräftiger als Artgenossen ohne Suppenküche sein. So könnten sie zumindest in der Theorie einen Vorteil haben und mehr Küken großziehen.

Nachwuchssorgen bei den Vögeln

Als Stuart Bearhop von der Universität von Exeter in England und seine Kollegen diese Theorie in der Praxis überprüften, erhielten sie allerdings in den vergangenen Jahren recht widersprüchliche Ergebnisse. Fütterten die Forscher Blaumeisen in nordirischen Wäldern bis sechs Wochen vor Beginn der Brut mit Erdnüssen, brachten diese in jedem Nest ein Küken mehr durch als Artgenossen ohne Zusatzfutter. In den Wäldern Cornwalls im Südwesten Englands dagegen quittierten Blaumeisen zusätzliches Fettfutter mit acht Prozent weniger Küken. Möglicherweise hatten die Eltern wegen der guten Versorgung im Winter die Nahrungssituation im Frühjahr zu optimistisch eingeschätzt und daher zu viel Nachwuchs im Nest gehabt, dessen Schnäbel sie nicht schnell genug stopfen konnten? Vielleicht entscheiden weitere Experimente in Zukunft diesen Widerspruch, zurzeit scheint noch alles offen.

Ohnehin haben die im Winter gut gefütterten Vögel bei der Brut noch ganz andere Schwierigkeiten: Oft finden sie für den Nestbau weder eine Baumhöhle noch einen dichten Busch, der am besten Katzen mit Stacheln abhält. Wer seine Verantwortung für die Wintervögel auch im Frühjahr wahrnehmen will, sollte daher im Hinterhof und im Vorgarten einheimische Sträucher wie Schneeball, Schlehe und Sanddorn pflanzen, sowie Nistkästen aufhängen, in denen die Vögel ihren Nachwuchs großziehen können.

Wie erfolgreich die Vogelfütterung im Winter ist, erfahren Interessierte bei der Stunde der Wintervögel vom 8. bis 10. Januar 2016. In einer Stunde zählen Freiwillige an diesen Tagen, wie viele Vögel verschiedener Arten sie im Garten, Schulhof oder auf anderen Plätzen sehen. Da die Aktion jedes Jahr wiederholt wird, sehen die Veranstalter vom NABU und LBV mit der Zeit, wie sich die Zahl der relativ häufig vorkommenden Arten verändert. Bahnt sich eine dramatische Entwicklung an, haben sie so eine Chance, rechtzeitig gegen zu steuern.