Unser Reporter Frank Herrmann hat am eigenen Leib erlebt, wie brutal die Polizei in Ferguson die Straßen frei räumt. Die Proteste nach dem gewaltsamen Tod eines Schwarzen gehen trotzdem weiter. Viele Demonstranten wollen ausharren, bis der Todesschütze vor Gericht steht.

Ferguson - Um 14.40 Uhr findet Officer Amero, dass es nun genug ist mit der Pressefreiheit. Die beiden Journalisten, die auf dem Bürgersteig der Florissant Avenue auf eine ausgebrannte Tankstelle zulaufen, laufen für seine Begriffe zu langsam. Einer aus Ameros Trupp ruft uns beiden, Ansgar Graw von der „Welt“ und mir, in knappem Befehlston zu, nicht stehen zu bleiben. Auf die Frage nach den Gründen wiederholt er nur stur seine Order, während ein freundlicherer Kollege immerhin erklärt, dass man keine Menschenansammlungen wolle. Im nächsten Moment lässt Officer Amero uniformierte Beamte mit Plastikhandschellen anrücken.

 

Hände auf den Rücken, das schmale Band festgezurrt, dass es tief in die Gelenke schneidet und noch lange ein taubes Gefühl in den Händen hinterlässt. In der fensterlosen Kabine eines Polizeitransporters geht es zu einer Shoppingmall, die den Ordnungshütern als provisorische Einsatzzentrale dient. Von dort ins Buzz Westfall Justice Center, ein Gefängnis in Clayton, einem Vorort von St. Louis. Zusammen mit Lou und David, einem ergrauten Altlinken und einem jungen Afroamerikaner, beide aus Chicago, beide drei Straßen entfernt festgenommen, warum auch immer.

Ring am Finger? Einzelzelle.

Gürtel abgeben, Schnürsenkel aus den Schuhen, Hosentaschen umkrempeln. Abgetastet werden. Bei der kurzen medizinischen Untersuchung, Blutdruck messen, solche Sachen, fragt eine Krankenschwester, ob man Selbstmordgedanken hege. Alles streng nach Protokoll. Als sich der Ehering partout nicht über den Fingerknöchel ziehen lässt, sagt ein Aufseher, dass man dann eben, mit Ring am Finger, in eine Einzelzelle müsse, statt im großen Saal mit seinen drei Fernsehbildschirmen mit den anderen darauf warten zu können, bis der Fall bearbeitet ist. Irgendwann besinnt er sich eines Besseren, bevor sich, drei Stunden später, die Türen des Knasts öffnen. Es gibt keine Erklärung, kein Wort, was folgt, ob unsereinem ein Gerichtstermin blüht oder sich die Sache erledigt hat. Nichts.

Wenigstens weiß ich jetzt, wie man sich für einen „Mugshot“ hinstellen muss, ein Foto für die Verbrecherkartei. Einmal geradeaus in die Kamera blicken, ein zweites Mal schräg nach links, auf einen roten Punkt an der Wand. Der Vorwurf, erfahren wir zwischendurch, lautet auf „Weigerung, sich zu zerstreuen“. Er ist so bizarr wie die Umstände: Bis auf die beiden Reporter und ein halbes Dutzend Polizisten hielt sich nachmittags nach halb drei keine Menschenseele an besagter Tankstelle auf. Die Sonne schien, es war heiß, ruhig und friedlich an der Florissant Avenue, nirgendwo flogen Steine oder gar Molotowcocktails. Der Name Amero, er taucht übrigens nur im Festnahmeprotokoll auf. Als wir ihn fragten, nannte er sich Donald Duck.

Freiwillige räumen weg, was der Trubel hinterlassen hat

Alles nur Petitessen, verglichen mit den Sorgen, die Darrell Bryant umtreiben. Der 29-Jährige arbeitet in einer Plastikfabrik, er müsste zur Schicht. Aber wegen der Unruhen in Ferguson fällt die Schule auf unbestimmte Zeit aus, und Darrell senior muss sich um Darrell junior kümmern, seinen achtjährigen Sohn. Ich treffe die beiden frühmorgens vor dem Tankstellen-Torso, wo zu dieser Zeit noch kein Versammlungsverbot gilt. Das verbogene Fragment einer Neonröhrenfassung baumelt über angesengten Metallregalen. In den Maschendrahtzaun, der die Ruine absperrt, hat jemand eine Rose gesteckt. Das Gebäude wurde geplündert und angezündet, kurz nachdem der Tod des Teenagers Michael Brown die Unruhen in Ferguson ausgelöst hatte. Am Morgen sind Kehrkommandos unterwegs, Dreiertrupps mit Besen, Kehrschaufeln und schwarzen Müllbeuteln. Die Freiwilligen räumen weg, was der Trubel der Nacht hinterlassen hat, leere Tränengashülsen, Whiskeyflaschen, die Glassplitter zerschlagener Schaufensterscheiben.

Darrell Bryant ist wütend auf die Polizei. Normalerweise tritt die Ausgangssperre, die seit Tagen in Ferguson herrscht, um null Uhr in Kraft. In der Nacht zum Montag aber, der schlimmsten Unruhenacht, fordert die Polizei die Demonstranten auf, schon um 21 Uhr nach Hause zu gehen. Als sie nicht gehorchen, bricht das Chaos aus. „Mann, ich verstehe nicht, warum die Cops uns so schikanieren müssen“, schimpft Bryant. „Die haben einen Job zu machen, die wollen am Morgen heimfahren, ist mir klar. Aber ich will nicht zum Kollateralschaden eines Krieges werden.“

Arthur Nixon, 68, einst als US-Soldat in Deutschland stationiert, kann nicht begreifen, weshalb es so lange dauert, die Tat aufzuklären. Nach einer zweiten, genaueren Obduktion der Leiche Michael Browns steht inzwischen fest, dass er sechsmal getroffen wurde, zweimal am Kopf. Solange Darrell Wilson, der Polizist, der die Schüsse abgab, nicht vor Gericht steht, wird Ferguson ein Hexenkessel bleiben. So prophezeit es Nixon, der seit zehn Jahren in der Kleinstadt lebt. Im Tonfall des Lokalpatrioten fügt er hinzu, dass es vor allem „Leute von außerhalb“ seien, „Plünderer und Hooligans“, auf deren Konto das Gros der Gewalt gehe. „Die Jungs feiern nun eben bei uns ihre Party.“

Schlichter haben es schwer

Craig Cheatham, Fernsehreporter des Lokalsenders KMOV, sieht einen Widerspruch, der sich schwer auflösen lässt. Die Ermittler wollten so gründlich wie möglich ermitteln, bevor sie an die Öffentlichkeit gehen. Die Öffentlichkeit, zumindest die aufgebrachten Bewohner von Ferguson, verlange das Gegenteil, sie dringe auf schnelle Informationen. „Solange nicht alle Beweise vor einen Richter kommen, werden Gerüchte und Halbwahrheiten die Tatsachen ersetzen“, orakelt Cheatham.

Am Vormittag trifft Jesse Jackson an der Tankstelle ein, der alte Bürgerrechtler, der noch Martin Luther King assistierte. Der Reverend kommt, um die Wogen zu glätten. Er spricht so leise, dass man ihn kaum versteht. Wie schwer es Schlichter wie er in diesen Tagen haben, macht schon der Wortwechsel mit Lorenzo deutlich, einem hoch aufgeschossenen Mittdreißiger, der so laut einschreit auf Jackson, als hätte er ein Megafon vor den Lippen: „Jahrelang hab ich Ruhe bewahrt, und was hab ich dafür bekommen? Ich wurde nur ignoriert, als wäre ich Luft. Jetzt bin ich nicht länger ruhig, vergessen Sie’s, Reverend.“

Camise Bedford, 27, Vollbart, ein schwarzes Tuch um den Kopf geschlungen, kramt ein Plastikkärtchen aus seinem Portemonnaie. Es weist ihn als Kriegsveteranen aus. 2006 kreuzte das Schiff, auf dem er diente, vor der Küste Iraks. Seit er seine Uniform an den Nagel hängte, hat Bedford keine ordentliche Arbeit gefunden, nur „chicken jobs“, wie er sie nennt – „Fenster putzen, Regale ausräumen, in einer Autowerkstatt aushelfen“. Früher hätten viele Bewohner Fergusons in einer General-Motors-Fabrik in St. Louis Geld verdient, aber das Werk habe geschlossen – „und nun? Nichts als ,chicken jobs‘“. Die Verbitterung steht dem Veteranen ins Gesicht geschrieben. Auch bei Camise Bedford steht der Prediger Jackson auf verlorenem Posten, zumindest für den Moment.

Suburbia wie aus dem Bilderbuch

Ortswechsel. Canfield Drive. Wie ein asphaltiertes Schlängelband zieht sich die schmale Straße durch Ferguson, weg von der geraden, vierspurigen Florissant Avenue, hinein in grüne, sanftwellige amerikanische Vorortidylle. Kein Ghetto, überhaupt nicht, die ghettoähnlichen Schwarzenviertel amerikanischer Großstädte, Los Angeles, Baltimore oder Philadelphia, liegen auf einem anderen Stern, betrachtet man es aus der Ferguson-Perspektive. Eher ist das hier Suburbia wie aus dem Bilderbuch. Hier wurde Michael Brown erschossen, ein Schrein auf dem gelben Mittelstreifen des Canfield Drive markiert den Ort der Tragödie. Kerzen, Sonnenblumen, Plüschteddys. Ein kleines Holzkreuz. „Hands up! Don’t shoot“, steht in schwarzen Lettern auf einem weißen T-Shirt. „Nicht schießen!“: Angeblich sollen es Browns letzte Worte gewesen sein, bevor Wilson ein zweites, drittes, viertes Mal auf den Abzug drückte. „Das Misstrauen sitzt tief“, beobachtet Phillip Boyd. „Was immer die Behörden erzählen, die Leute werden es erst mal mit einer sehr, sehr großen Prise Salz nehmen.“ Die Prise Salz, die angelsächsische Metapher für Skepsis.

Mit Schlips, weißem Hemd und hellgrauem Jackett fällt Boyd schon optisch aus dem Rahmen am Canfield Drive. Früher war er Anwalt, heute leitet er das örtliche Schulsystem. Mit der Nachdenklichkeit eines guten Soziologen spricht er von jungen Männern, jungen Afroamerikanern, die sich in der Gruppe beweisen, nicht zurückstecken wollten, wenn nachts die Tränengasgranaten fliegen. Von Macho-Stolz. Die Nationalgarde, eingesetzt, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen, macht nach Boyds Analyse alles nur schlimmer. Die Panzerfahrzeuge, die Helme, der ganze militärische Habitus: „Damit wird die Kluft zur lokalen Community nur noch ein Stück größer“, sagt Boyd. „Das schürt nur den Frust, und eines ist klar: die Leute gehen nicht weg, es ist ja ihr Viertel.“