Kreative Action in der Innenstadt: Mit einer Kunstaktion bringt der Künstler Kurt Laurenz Theinert Leben ins Tübinger Carré. Die Aktion ist Teil eines mehrwöchigen Projekts.

Stuttgart - Stärker kann ein Kontrast kaum sein. Vor den Türen des Tübinger Carrés tobt das städtische Leben. Es ist laut, es ist viel los. Ein Teil der Tübinger Straße, der künftige Shared Space, ist gesperrt. Rot-weiße Abschranksperren stehen zuhauf um die Baustelle. Radfahrer und Fußgänger müssen einen Slalom bewältigen, Autos drücken sich ein Stück weiter hinten an der Tübinger Straße an wuchtigen Baufahrzeugen der Gerberbaustelle vorbei. Es ist eng, laut und unübersichtlich. Im Tübinger Carré hingegen ist es still. Nur selten quert ein Passant die Passage. Die Treppe zum Untergeschoss ist durch ein Tor versperrt. Bis auf das Geschäft Strauss, das Kunden ins Carré lockt, sind alle Läden leer. Das Zentrum liegt mehr oder weniger brach, und das mitten in der Stadt.

 

Genau deshalb hat es das Interesse des Fotografen und Lichtkünstlers Kurt Laurenz Theinert geweckt. Er ist einer der Künstler, der in den vergangenen Wochen an einem kreativen Austausch zwischen Künstlern, Wissenschaftler, Stadtplanern und Architekten teilgenommen hat. Eingeladen haben die beiden Organisatorinnen Tina Saum und Daniela Metz vom Flanerie-Labor, das mittels Flanieren regelmäßig urbane Lebensweisen erforscht. Eines der Themen, das sich im fortdauernden kreativen Prozess aus dem Kerngedanken „Umwege und Unorte“ entwickelt hat, ist die urbane Brache.

Das Rondell findet kaum Beachtung

„Das Tübinger Carré ist eine solche urbane Brache“, sagt Theinert. Er findet es erstaunlich, dass ein Einkaufszentrum in dieser zentralen Lage leer steht und interessant, dass dessen vorgegebene Bestimmung nicht funktioniert. In den vergangenen Wochen war er mehrmals in der Passage und hat immer das Gleiche beobachtet – kaum jemand betritt das Rondell. „Die meisten, die hier durchlaufen, gehen zum Eingang der Tiefgarage“, sagt er. Der überschaubare Fußgängerverkehr ist Theinert für seine Kunstaktion am Montagabend, die den Titel „Reanimation – Lebenszeichen“ trägt, gerade gelegen gekommen. Für 15 Minuten hat er in die Szenerie eingegriffen und ein paar Leute in die Passage geholt. Was in einem Einkaufszentrum normal sein sollte, hat der Künstler für eine Viertelstunde konstruiert.

Den Kontrast zwischen dem gestellten Passantenaufkommen und der Situation, die sich sonst zeigt, hat Kurt Laurenz Theinert mit einer Technik aufgenommen, die auch bei Überwachungskameras verwendet wird. Solange nichts passiert, ist nur Grau zu sehen. Jede Bewegung jedoch blitzt in der Aufnahme als Negativ auf.

Wie das aussieht, können Besucher bei der Werkschau sehen, die von Donnerstag an im Stadtlabor an der Kriegsbergstraße geöffnet hat. Sie ist der Abschluss des sechswöchige Diskurses, der unter den Kulturschaffenden stattgefunden hat. Bis Sonntag hat die Ausstellung geöffnet, bei welcher auch die Künstler Sylvia Winkler und Stephan Köperl sowie Susanne Kudielka und Kaspar Wimberly ihre Aktionen zum Thema Urbane Brachen in Bild und Text dem Publikum näherbringen.

„Wir brauchen Leute, die über den Tellerrand blicken“

Sinn und Zweck des Projekts „Umwege und Unorte Stuttgarts“ sei auch gewesen, Verständnis zwischen Wissenschaftlern und Künstlern unterschiedlicher Disziplinen zu entwickeln und die Sichtweisen der anderen kennenzulernen. „Wir bauchen Leute, die offen sind und bereit, über den eigenen Tellerrand zu blicken“, so Tina Saum. Auch Theinert schätzt diese Erfahrung: „Es war sehr interessant, Gedanken mit Menschen auszutauschen, die nicht der Künstlerszene angehören, und nicht immer im eigenen Saft zu schmoren.“

Und so hat sich bei diesem kreativen Aufeinandertreffen der verschiedenen Disziplinen noch eine weitere Idee entwickelt, welche interessierte Besucher am kommenden Freitag und Samstag selbst ausprobieren können – den sogenannten Audio-Walk.

„Wir haben für unser Projekt den Schriftsteller und Musiker Simon Maric aus Belgrad eingeladen“, erzählt Tina Saum. Er hat eine Geschichte geschrieben über einen älteren, blinden Mann, der nach langer Zeit aus Belgrad nach Stuttgart zurückkehrt, das er noch kannte, als er sehen konnte. Diese Geschichte, aufgeteilt in mehrere Tracks, hören die Teilnehmer des Audio-Walks. Um die Orte beschreiben zu können, ist Simon Maric, der zuvor noch nie in Stuttgart war, in der vergangenen Woche viel durch die Stadt flaniert – so wie die anderen Teilnehmer auch.

Um die Eindrücke blinder Menschen besser zu verstehen und einzubringen, begleitete Tina Saum drei blinde junge Männer der Nikolauspflege auf deren Alltagsrouten. „Wie sie Umgebungen wahrnehmen und sich behelfen, ist ebenfalls in den Audio-Walk eingeflossen“, sagt sie. Die Teilnehmer des Audio-Walks bekommen sieben Fotos der Orte, die auf dem Weg liegen, und starten und enden am Stadtlabor. „Wo sie aber zuerst hingehen und welchen Teil der Geschichte sie zuerst hören möchte, kann jeder selbst entscheiden“, so Saum. Die Erinnerungen des Mannes in der Geschichte könnten so bei den Flaneuren eigene Erinnerungen wecken, die an bestimmte Orte der Stadt geknüpft sind.