Kultur: Stefan Kister (kir)

„Ich verließ den Waldensee vielleicht in dem Gefühl, dass ich noch verschiedene andere Leben zu leben hätte und für dieses eine nicht mehr Zeit aufbringen könne.“ Und in der Tat lebte Thoreau, der nur 44 Jahre alt wurde, eine ganze Reihe von Leben: In der väterlichen Bleistift-Fabrik beschäftigte er sich mit der Verbesserung der Grafitherstellung, er unterstützte die Sklaverei-Gegner als Fluchthelfer, setzte sich für die Belange der Indianer ein, war Assistent des Philosophen Ralph Waldo Emerson und vermaß das Land, dessen ungezügelte Natur er als Vortragsreisender unter die Leute brachte und in dichten Beschreibungen für die Nachwelt kultivierte.

 

Berühmt ist die Nacht, die er im Gefängnis verbrachte, weil er sich weigerte, einem Staat Steuern zu zahlen, der einen ungerechten Krieg gegen Mexiko führte. „Wie soll sich ein Mensch heutzutage gegenüber dieser amerikanischen Regierung verhalten?“ Diese Frage, die sich manchem auch heute wieder stellt, wirft er in seiner Rechtfertigungsschrift auf, deren Titel zugleich die Antwort ist: „Civil disobedience“ – ziviler Ungehorsam. „Wenn aber das Gesetz so beschaffen ist, dass es notwendigerweise aus dir den Arm des Unrechts an einem anderen macht, dann, sage ich, brich das Gesetz“, schrieb er darin. Zum Thoreau-Schrifttum gehört an dieser Stelle der Hinweis auf Mahatma Gandhi und Martin Luther King, die sich auf ihn beriefen. Attraktiv jedoch ist er auch für jene, die sich vor mancher intensiv gefühlten Unsicherheit ins bergende Dickicht populistischer Regressionen zurückziehen. Und auch Hamburger Polit-Hooligans, die das nackte Austoben asozialer Triebe gerne mit dem Dienst für eine gute Sache bemänteln, fänden in ihm das geeignete Feigenblatt.

Baderummel am Waldensee

Hellsichtig analysiert er das Grundproblem moderner Lebensformen: die Verabsolutierung der Mittel über die Zwecke. Doch seine Kritik bleibt unsystematisch und taugt im Zweifel mehr als schönes Zitat denn zur tatsächlichen Veränderung der Gesellschaft. Wo der Kapitalismus seine schrankenlose Logik entfaltet, errichtet Thoreau sein Unabhängigkeitsreich innerhalb der Grenzen individueller Selbstgenügsamkeit. Er übersieht dabei, dass die freiwillige Askese eines Harvard-Absolventen gegenüber der erlittenen der zeitgenössischen Lohnarbeiter reichlich mit Privilegien abgesichert ist.

Das von Thoreau gefeierte Individuum ist in Wirklichkeit längst zum geheimen Akteur der gleichen kapitalistischen Logik geworden, von der sein eigenes Bleistiftunternehmen profitiert. Noch als nonkonformistischer Aussteiger bleibt er Teil der Welt, die seinem Verdikt verfällt. Dafür verdankt sich seinem Einsatz die Nationalpark-Bewegung, auf dass sich der im Brausen der Moderne abhanden gekommene Mensch am Busen der Natur wiederfinde.

So schillert Thoreaus Aktualität heute merkwürdig zwischen Occupy und Tea-Party im Licht des Widerspruchs. Wie der Walden-See. Denn wo Thoreau einst die Ruhe suchte, herrscht heute Massenschwimmbetrieb – und mit den Parkgebühren allein hätte der Waldmensch auf Zeit Monate seines verspielten Indianerlebens bestreiten können.

Nach gut zwei Jahren kehrt Thoreau aus seiner Klause zurück, die freilich nah genug an der Zivilisation gelegen war, um den Pfiff der Eisenbahn zu hören und regelmäßig Besuch empfangen zu können. Nach Abzug aller Ausgaben mit dem Verdienst durch Bohnen blieb ein Defizit von 25,21 Dollar, was allerdings mit anderen Kalkulationen zu verrechnen ist, die Thoreau anstellt, derjenigen etwa, wonach der Mensch nicht mehr als sechs Wochen im Jahr darauf verwenden sollte, seinen Lebensunterhalt zu sichern. Wohl dem, der sich derartige Enthaltsamkeit leisten kann.

Widerstand gegen die Regierung

„Ich verließ den Waldensee vielleicht in dem Gefühl, dass ich noch verschiedene andere Leben zu leben hätte und für dieses eine nicht mehr Zeit aufbringen könne.“ Und in der Tat lebte Thoreau, der nur 44 Jahre alt wurde, eine ganze Reihe von Leben: In der väterlichen Bleistift-Fabrik beschäftigte er sich mit der Verbesserung der Grafitherstellung, er unterstützte die Sklaverei-Gegner als Fluchthelfer, setzte sich für die Belange der Indianer ein, war Assistent des Philosophen Ralph Waldo Emerson und vermaß das Land, dessen ungezügelte Natur er als Vortragsreisender unter die Leute brachte und in dichten Beschreibungen für die Nachwelt kultivierte.

Berühmt ist die Nacht, die er im Gefängnis verbrachte, weil er sich weigerte, einem Staat Steuern zu zahlen, der einen ungerechten Krieg gegen Mexiko führte. „Wie soll sich ein Mensch heutzutage gegenüber dieser amerikanischen Regierung verhalten?“ Diese Frage, die sich manchem auch heute wieder stellt, wirft er in seiner Rechtfertigungsschrift auf, deren Titel zugleich die Antwort ist: „Civil disobedience“ – ziviler Ungehorsam. „Wenn aber das Gesetz so beschaffen ist, dass es notwendigerweise aus dir den Arm des Unrechts an einem anderen macht, dann, sage ich, brich das Gesetz“, schrieb er darin. Zum Thoreau-Schrifttum gehört an dieser Stelle der Hinweis auf Mahatma Gandhi und Martin Luther King, die sich auf ihn beriefen. Attraktiv jedoch ist er auch für jene, die sich vor mancher intensiv gefühlten Unsicherheit ins bergende Dickicht populistischer Regressionen zurückziehen. Und auch Hamburger Polit-Hooligans, die das nackte Austoben asozialer Triebe gerne mit dem Dienst für eine gute Sache bemänteln, fänden in ihm das geeignete Feigenblatt.

Baderummel am Waldensee

Hellsichtig analysiert er das Grundproblem moderner Lebensformen: die Verabsolutierung der Mittel über die Zwecke. Doch seine Kritik bleibt unsystematisch und taugt im Zweifel mehr als schönes Zitat denn zur tatsächlichen Veränderung der Gesellschaft. Wo der Kapitalismus seine schrankenlose Logik entfaltet, errichtet Thoreau sein Unabhängigkeitsreich innerhalb der Grenzen individueller Selbstgenügsamkeit. Er übersieht dabei, dass die freiwillige Askese eines Harvard-Absolventen gegenüber der erlittenen der zeitgenössischen Lohnarbeiter reichlich mit Privilegien abgesichert ist.

Das von Thoreau gefeierte Individuum ist in Wirklichkeit längst zum geheimen Akteur der gleichen kapitalistischen Logik geworden, von der sein eigenes Bleistiftunternehmen profitiert. Noch als nonkonformistischer Aussteiger bleibt er Teil der Welt, die seinem Verdikt verfällt. Dafür verdankt sich seinem Einsatz die Nationalpark-Bewegung, auf dass sich der im Brausen der Moderne abhanden gekommene Mensch am Busen der Natur wiederfinde.

So schillert Thoreaus Aktualität heute merkwürdig zwischen Occupy und Tea-Party im Licht des Widerspruchs. Wie der Walden-See. Denn wo Thoreau einst die Ruhe suchte, herrscht heute Massenschwimmbetrieb – und mit den Parkgebühren allein hätte der Waldmensch auf Zeit Monate seines verspielten Indianerlebens bestreiten können.

Neue Bücher zum Jubiläum:

Henry David Thoreau: Ktaadn.
Mit einem Essay von Ralph Waldo Emerson. Aus dem Amerikanischen von Alexander Pechmann. Jung & Jung. 160 Seiten, 20 Euro.

Henry David Thoreau: Wilde Früchte.
Mit 52 Illustrationen. Manesse-Verlag. 320 Seiten, 29 Euro.

Frank Schäfer: Henry David Thoreau – Waldgänger und Rebell.
Eine Biografie. Suhrkamp-Verlag. 254 Seiten, 16,95 Euro.

Susan Cheever: American Bloomsbury.
Ein Leben zwischen Liebe, Inspiration und Natursehnsucht. Insel-Verlag. 288 Seiten, 24 Euro.