Politik: Matthias Schiermeyer (ms)
Schätzungen zufolge tummeln sich eine Million sogenannter Crowd- oder Clickworker, die auf 32 Internet-Plattformen um digitale Aufträge aus ganz unterschiedlichen Bereichen konkurrieren. Wird es mal einen guten Tarifvertrag für die Selbstständigen geben?
Tatsächlich aktiv sind wohl 100 000 bis 200 000 von denen, die sich angemeldet haben. Wir haben dazu Befragungen unter Mitgliedern gemacht und kooperieren mit Forschungsinstituten. Im Moment gibt es nur wenige Menschen – klar unter 10 000, würde ich sagen –, die über Crowdworking ihr Haupterwerbseinkommen erzielen können. Wir reden mit Plattformen, um zumindest einen geeigneten Rahmen zu definieren. Auf den derzeitigen rechtlichen Grundlagen kommen da leider keine Tarifverträge heraus. Aber es kann sehr wohl gelingen, allgemeine Geschäftsbedingungen mit Schutzmechanismen zu vereinbaren, die dann Grundlagen der Aufträge sind.
Wie viele Menschen organisiert Verdi in dem Bereich?
Bei uns sind 40 000 Selbstständige Mitglied. Die sind aber nicht alle auf den Plattformen unterwegs. Hinzu kommen Festangestellte in den betroffenen Branchen.
Wie grenzt sich Verdi beim Organisieren der Selbstständigen von der IG Metall ab, die ebenso den Dialog zu den Plattformen sucht?
Die IG Metall ist da auch unterwegs, was gut und richtig ist, weil diese Arbeit in ihren Branchen eine Rolle spielt. Wir tauschen uns mit ihr aus. Bei Lichte betrachtet kann man die Organisationsbereiche nicht glasklar abstecken. Wenn es sich um echte Soloselbstständige in kreativen Bereichen handelt, ist es oft so, dass sie auf uns verweist, weil wir da stärker aufgestellt sind. Wir haben seit jeher Selbstständige organisiert, während die IG Metall ihre Satzung für die Mitgliedschaft von Selbstständigen erst vor zwei Jahren geöffnet hat. Im Moment reden wir da über so überschaubare Zahlen bei der IG Metall – das hat sicher auch eine Imagekomponente.
Muss Digitalisierung bei den Gewerkschaften nicht höher angesiedelt werden?
Die Digitalisierung steht bei uns bereits seit einigen Jahren im Fokus – früher zum Teil unter anderen Stichworten wie Multimedia. Aber es ist nicht ganz banal, das Thema in der Alltagsarbeit von Betriebs- und Personalräten herunter zu brechen, sodass es konkret und umsetzbar wird. Wir gehen das Thema beispielsweise im Zusammenhang mit Erreichbarkeit an – und dem Recht, auch mal nicht über das Tablet oder Smartphone erreichbar zu sein. Wo es Ansatzpunkte gibt, versuchen wir über Tarifverträge zu gestalten. Für die Versicherungswirtschaft haben wir jüngst einen Digitalisierungs-Tarifvertrag abgeschlossen – kaum eine andere Branche ist aktuell von Digitalisierung so sehr getroffen.
Einer Studie zufolge sind nur noch gut 15 Prozent der Arbeitnehmer in einer Gewerkschaften organisiert. Hat dies auch mit deren Schwäche zu tun?
Die Zeiten großer Mitgliederverluste liegen Jahre zurück. Trotzdem sinkt der gewerkschaftliche Organisationsgrad, weil Beschäftigung in Wachstumsbereichen zunimmt und es nicht schnell genug gelingt, dort gewerkschaftlich Fuß zu fassen. Immerhin werden wir in diesem Jahr an die 110 000 neue Mitglieder gewinnen. Es gibt nicht so viele Organisationen in diesem Land, die das können.
Dennoch droht unterm Strich wieder ein Mitgliederschwund bis Ende 2017?
Wir werden am Ende vermutlich eine leicht negative Zahl feststellen, weil wir in den siebziger und frühen achtziger Jahren viele Mitglieder gewonnen haben, die jetzt langsam in das Rentenalter kommen. So werden wir dort Abgänge auf einem sehr hohen Niveau haben – es braucht alle Anstrengungen, um das auszugleichen.
Bald gehen die starken Geburtenjahrgänge in Ruhestand – beginnt dann die große Talfahrt in der Mitgliederentwicklung?
Ich sehe keine dramatische Talfahrt für Verdi. Wir haben zum Beispiel gute Mitgliedererfolge in der Pflege mit großen Wachstumspotenzialen oder bei Weiterbildungseinrichtungen. Wir haben es in den vergangenen Wochen auch geschafft, mehr als 2000 Friseur-Azubis zu gewinnen, und sind dabei, mit ihnen einen Azubi-Tarifvertrag durchzusetzen. Es gibt Möglichkeiten, Menschen zu begeistern.
Sie gelten nach 14 Jahren in diesem Amt als ewiger Vize-Vorsitzender. 2019 ist endgültig Schluss für Verdi-Chef Frank Bsirske – wollen Sie ihm nachfolgen?
Die Frage, wer ihm folgt, werden wir in aller Ruhe vor dem Kongress im Herbst 2019 diskutieren. Ob ich antrete oder nicht, dazu bin ich noch nicht festgelegt.