Die UN beraten dieser Tage über ein Verbot von Quecksilber – und drohen übers Ziel hinauszuschießen. Denn zur Debatte steht auch ein Verbot der Quecksilberverbindung Thiomersal, das preisgünstige Impfungen in Entwicklungsländern ermöglicht.

Stuttgart - Zuerst spielten die Katzen verrückt. Sie rannten gegen Wände, manche sprangen ins Meer. Dann, im Jahr 1954, klagten Fischer in der japanischen Stadt Minamata über Sehstörungen. Ihr Körper zitterte so sehr, dass ihnen das Gehen schwerfiel. Als ein Mädchen ins Krankenhaus kam und weder essen noch sprechen konnte, bekam das Syndrom den Namen Minamata-Krankheit. Das Mädchen, die Fischer und die Katzen hatten eins gemeinsam: Sie ernährten sich fast nur von Fisch – und das Fleisch der Tiere war voller Methylquecksilber, der giftigsten Quecksilberverbindung. Der Körper kann das Gift kaum ausscheiden, es greift die Nerven an und schädigt Ungeborene.

 

Schuld war die Chemiefabrik der Stadt, sie hatte verseuchtes Abwasser ins Meer geleitet. Bis heute ist Minamata der gravierendste Fall von Quecksilbervergiftung. Zwar begannen viele Regierungen in den 60er Jahren, die Verwendung von Quecksilber einzuschränken – in den 90er Jahren folgten internationale Verhandlungen –, doch nach wie vor werden jedes Jahr 2000 Tonnen Quecksilber in die Umwelt eingetragen, schätzt das Umweltprogramm der Vereinten Nationen, Unep.

In den Weltmeeren sammelt sich Quecksilber an

Laut einem Unep-Bericht wird ein Drittel davon in kleinen Goldminen in der Dritten Welt verwendet. Auch bei der Verbrennung von Kohle, in der Metallurgie und bei der Produktion von Zement und PVC würden Quecksilberverbindungen freigesetzt. Viele Alltagsgüter wie Elektronik, Energiesparlampen und selbst Wimperntusche enthielten zumindest kleine Mengen Quecksilber. Früher oder später gelange es in Flüsse und Meere. In den vergangenen 100 Jahren habe sich in den oberen 100 Meter Meerwasser die Menge des vom Menschen produzierten Quecksilbers verdoppelt. Fische tragen es in die Nahrungskette, die Gesundheit von Millionen Menschen ist nach Ansicht der Unep gefährdet.

Seit Sonntag berät in Genf das Internationale Verhandlungskomitee zu Quecksilber der Unep. Regierungsvertreter von 147 Staaten wollen Ende der Woche ein verbindliches Abkommen beschließen. Es soll sich nicht auf Grenzwerte beschränken, sondern die Nutzung von Quecksilber weitgehend untersagen. Damit schießen die Delegierten jedoch über das Ziel hinaus, warnen die Weltgesundheitsorganisation WHO, Kinderärzte und die Gavi-Allianz für Impfstoffe und Immunisierung, die unter anderem von der Weltbank, Unicef und der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung unterstützt wird. Denn ein Entwurf der Unep sieht vor, auch Thiomersal zu verbieten. Ohne dieses Konservierungsmittel für Impfstoffe laufen Millionen Kinder in der Dritten Welt Gefahr, an Infektionskrankheiten zu sterben.

Thiomersal erhöht die Sicherheit von Impfstoffen. Wenn aus einer Ampulle mehrere Spritzen aufgezogen werden, können Bakterien oder Pilze in den Impfstoff gelangen. Thiomersal tötet sie ab. Für den Menschen dagegen ist der Stoff unschädlich. Es enthält kein Methyl-, sondern Ethylquecksilber. Das ist für den Körper ein großer Unterschied. Ethylquecksilber wird über den Stuhl ausgeschieden. Somit kann es sich viel schlechter als Methylquecksilber im Körper festsetzen und eine Konzentration erreichen, die giftig ist. Die Grenzwerte für Thiomersal entsprechen trotzdem denen von Methylquecksilber.

Impfstoffe mit Thiomersal retten Leben, argumentieren Ärzte

Studien belegen, dass Thiomersal in Impfstoffen selbst für kleine Kinder sicher ist. Ein Zusammenhang zwischen Autismus oder anderen Entwicklungsstörungen besteht nicht, haben die Weltgesundheitsorganisation, die EU-Zulassungsbehörden und ihr US-amerikanisches Pendant, die FDA, übereinstimmend festgestellt.

In den Industrieländern spielt Thiomersal kaum noch eine Rolle. Um besorgten Eltern entgegenzukommen, könne man Kinder in Deutschland thiomersalfrei impfen, sagt die Sprecherin des Paul-Ehrlich-Instituts, Susanne Stöcker. Kombinationsimpfstoffe gebe es in Einzelspritzen ohne Konservierungsmittel. Bei einer Pandemie brauche man aber schnell Impfstoff. Um die größeren Ampullen steril zu halten, könne man nicht grundsätzlich auf Thiomersal verzichten.

In Entwicklungsländern dagegen sind die größeren Ampullen – etwa mit dem Kombinationsimpfstoff gegen Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten, Haemophilus influenzae und Hepatitis B – eine preiswerte Möglichkeit, viele Kinder zu impfen. „Wir haben im letzten Jahr 130 Millionen Dosen mit dem Fünffachimpfstoff in 120 Ländern finanziert“, sagt Dan Thomas, Sprecher der Gavi-Allianz. „2010 konnten wir dank Impfstoffen mit Thiomersal 1,4 Millionen Kinderleben retten.“

Auch die Weltgesundheitsorganisation und die US-Fachgesellschaft der Kinderärzte warnen vor einer Fehlentscheidung der Unep. Einzeldosen wären mindestens dreimal so teuer, und sie verbrauchen bei der Auslieferung mehr Platz in den Kühlräumen, schreibt ein Team um Walter Orenstein vom Impfzentrum der Emory-Universität in Atlanta im Fachblatt „Pediatrics“. Andere Konservierungsmittel gebe es nicht, da sie Impfstoffbestandteile beeinflussten. Und selbst wenn eine Alternative gefunden würde, müssten die Impfstoffe erst neu zugelassen werden. Auch das triebe die Kosten in die Höhe.

Dan Thomas ist jedoch optimistisch, dass es nicht so weit kommt: „Ich bin davon überzeugt, dass sich der gesunde Menschenverstand durchsetzt.“