Der 30. September zog 222 Verfahren nach sich – meist gegen Polizeibeamte, doch verurteilt wurden fast nur Kritiker von Stuttgart 21.

Stuttgart - Als am "schwarzen Donnerstag" Schlagstöcke gezückt wurden, Wasserwerfer auf Demonstranten zielten und Stuttgart-21-Gegner im Schlossgarten blockierten und beleidigten, löste das nicht nur Debatten über politische Kultur aus. Losgetreten wurde auch eine Lawine der juristischen Aufarbeitung, die sich bis heute durch die Verhandlungssäle walzt und den ohnehin überlasteten Gerichten haufenweise Mehrarbeit beschert. Auch ein Jahr später ist jedes zweite Verfahren im Zusammenhang mit dem 30. September 2010 noch nicht abgeschlossen.

 

Rund 320 Verstöße gegen geltendes Recht wurden nach dem "schwarzen Donnerstag" angezeigt. Fast jeder dritte Fall endete im Nichts: entweder konnte den Beteiligten kein Vergehen nachgewiesen werden, oder es scheiterte daran, dass die Personalien der Betroffenen im Chaos der Ereignisse im Schlossgarten nicht ermittelt werden konnten. Letztlich wurden 222 Verfahren gegen bekannte Personen eingeleitet - Stand Mitte September. Allerdings stehen mehr Personen im Fokus der Ermittler, weil die Staatsanwaltschaft in einem Zug auch die Beteiligung mehrerer an einer angezeigten Straftat überprüfen kann.

78 Verfahren gehen gegen Projektgegner

Mit 136 Verfahren richten sich die meisten gegen Polizeibeamte, vorwiegend wegen Körperverletzung im Amt. 78 Verfahren gehen gegen Projektgegner (vor allem wegen Nötigung, Beleidigung und Widerstands). Drei Verfahren wurden gegen Projektbefürworter aufgenommen, vier gegen Verantwortliche der Bahn. Ihnen wird unter anderem vorgeworfen, durch Bäumefällen die Lebensgrundlage des Juchtenkäfers zerstört zu haben. Der wohl prominenteste Name der Riege lautet Stefan Mappus: der frühere CDU-Ministerpräsident ist wegen uneidlicher Falschaussage vor dem Untersuchungsausschuss angezeigt.

Auffallend ist, dass bisher vor allem die 78 Verfahren gegen Projektgegner vorangetrieben worden sind. 23 Demonstranten haben einen Strafbefehl bekommen, vier stehen noch vor Gericht, gegen fünf wird - bisher ohne Anklage - weiter ermittelt. 51 Verfahren gegen Projektgegner wurden eingestellt, so auch das gegen Dietrich Wagner, der nach dem Einsatz der Wasserwerfer erblindet ist. Wegen der schlimmen Folgen wurde in seinem Fall von Strafe abgesehen.

Ungleichgewicht spiegelt sich am Amtsgericht wider

Im Fall der angezeigten Polizeibeamten gestaltet sich die Lage hingegen anders. Nur einer ist bisher angeklagt und verurteilt worden: das Gericht wies ihm gefährliche Körperverletzung nach, weil er Pfefferspray gegen Demonstranten eingesetzt hat. 38 Verfahren wurden eingestellt, den Großteil mit 97 bearbeitet die Staatsanwaltschaft noch.

Woran liegt das? Im Fall der Projektgegner ist die Beweisführung relativ einfach: Eine Sitzblockade bleibt eine Sitzblockade. Beim Einsatz von Wasserwerfern muss hingegen geprüft werden: "Wie stark war der Strahl? Wie war die ganze Situation? Und, gemessen an dem: war das Verhalten strafbar?", erläutert die Pressestaatsanwältin Claudia Krauth.

Prozesse der Gegner sind aufwendiger

Das Ungleichgewicht spiegelt sich auch am Amtsgericht Stuttgart wider. Es ist für die meisten Stuttgart-21-Prozesse zuständig, da dort kleinere Strafsachen verhandelt werden, auf die bis zu vier Jahre Haft stehen. Allein der Streit über das Milliardenprojekt hat dem Gericht bisher 280 zusätzliche Verfahren beschert. "Fast alle richteten sich bisher gegen S-21-Gegner", sagt der Vizepräsident Till Jakob.

Er betont: es gibt nicht nur mehr Prozesse, sondern diese sind auch aufwendiger. Würden Verfahren vor dem Strafrichter oft im Strafbefehlsweg und ganz ohne Hauptverhandlung erledigt, stellten die Verteidiger der Demonstranten häufig Anträge oder die Angeklagten selbst gäben Erklärungen ab. "Zur ordnungsgemäßen Erledigung wird daher deutlich mehr Zeit benötigt als im Durchschnitt", so Jakob.

Update 13.50 Uhr: Es gibt keine Erkenntnisse darüber, dass Stuttgart-21-Gegner am 30. September 2010 Steine im Schlossgarten geworfen haben. Richtig ist, dass das Innenministerium die erste Meldung des Einsatzleiters vor Ort, laut der Pflastersteine geflogen sein sollen, noch am gleichen Abend zurückgenommen hat. Statt Steinen wurden Kastanien geworfen. In einer früheren Version des Textes war von Steinwürfen die Rede. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.