Über die Jahrzehnte hat der Einzelne immer mehr Platz zum Wohnen beansprucht, und der Wohnungsmangel ist ein Dauerbrenner. Doch wie wollen und können wir heute leben? Beim VHS-Pressecafé sprach Nicole Golombek über „Visionen für das Wohnen“.

Weinberge, Bäume und Wiesen, dampfende Lok! Pittoresk liegen die Gründerzeit-Wohnhäuser in der Landschaft, dreistöckig, siebenzeilig zwischen Wegen und Beeten. Die Abbildung des Postdörfle, erste Werkssiedlung Stuttgarts, aus der Vogelperspektive stammt, von einem unbekannten Künstler. Das „Quartier der Staatsverkehrsbediensteten in Stuttgart“, zwischen Heilbronner Straße, Im Kaisemer und Vordernbergstraße, vom Architekten und Eisenbahningenieurs Georg von Morlok. Nicole Golombek stellte es an den Anfang ihres Vortrags im VHS-Pressecafé. In „Visionen für das Wohnen“ nahm die für Bauen, Wohnen und Architektur zuständige Redakteurin unserer Zeitung das Publikum im Treffpunkt Rotebühlplatz und im Live-Stream mit auf einen Stadtspaziergang „im Sitzen“.

 

Der Traum von Eigentum und Eigenheim ist nicht ausgeträumt

Vom Postdörfle zu den Arbeiterwohnhäusern des Architekten Albert Pantle im Tunzhofer Viertel über Halbhöhenvillen von Karl Hengerer und anderen zum „Eiernest“ im Süden. Dort entstanden 1926 – unter Federführung des städtischen Hochbauamts zur Linderung der Wohnungsnot – 176 Kleinhäuser für Arbeiterfamilien, angelehnt an die englische Gartenstadt-Bewegung des 19. Jahrhunderts. Per Bild besucht wurden auch das Unescowelterbe Weissenhofsiedlung von 1927, und Neugereut, das ab den 1970ern aufwuchs. Manches Aktuelle sei in den ersten Siedlungen schon umgesetzt worden, sagte Golombek: „Fußläufige Erreichbarkeit etwa. Doch wie wollen wir heute leben?“ Nach Umfragen ist der Traum von Eigentum und Eigenheim auch bei jungen Menschen nicht ausgeträumt.

30,3 Quadratmeter Wohnraum für eine Arbeiterfamilie

Doch geht Bauen, ohne die Umwelt zu sehr zu belasten? „Die Wohnfläche pro Kopf hat sich stetig erhöht, in Deutschland liegt sie nun bei fast 48 Quadratmetern.“ 1929 wurden auf dem Congrès Internationaux d’Architecture Moderne, von Le Corbusier mitgegründete Denkfabrik zu Architektur und Städtebau, für eine bezahlbare Kleinstwohnung – mit den Prämissen Licht, Luft, Raum und Wärme – für eine Arbeiterfamilie 30,3 Quadratmeter Wohnfläche vorgeschlagen.

Golombek ging auch auf aktuelle Projekte von Architekturbüros ein und den Trend zu Tiny Houses, denn Grundstücke in Ballungsräumen sind rar und teuer. „Aber es wird mehr umgebaut und umgewidmet, endlich Umbau an Hochschulen unterrichtet.“ Negativ seien freilich die Zeichen der Zeit, etwa die Kostensteigerungen bei Material und Energie. „In Stuttgarts Osten hat Bauherrin EnBW das Projekt neues Stöckach gestoppt. Die Stadt überlegt, ob sie das kauft“, nannte Golombek ein Beispiel. 800 Wohnungen sollen dort entstehen. Die werden dringend gebraucht. Wohnraum fehlt, seit Jahren steigen die Mietpreise in deutschen Großstädten. Stuttgart ist vorne mit dabei, die Baubranche schwächelt. In Stuttgart will man jährlich mindestens 1800 neue Einheiten schaffen, zuletzt erreichte man nicht einmal die Hälfte. Das Bündnis für Wohnen zwischen Stadt und Wohnwirtschaft soll neu aufgelegt werden, kommunale Unterstützung sei geplant, heißt es bei der Stadt.

Die öffentliche Hand muss den Wohnungsbau anschieben

Hohe Mieten, zu wenig Neubau, zu viel Bürokratie und Bauvorschriften, Leerstände, Besitzerstruktur, der Ausstieg des Bundes aus dem sozialen Wohnungsbau und neue wohnungspolitische Förderinstrumentarien wurden lebendig diskutiert im Publikum. Etwa, warum Unternehmen ihre Boni nicht in Werkswohnungen investierten. „Das wäre nachhaltig angelegt!“ Die öffentliche Hand müsse anschieben, wenn Mieten und Herstellungskosten auseinanderklafften. Auch das Beispiel Wien kam auf, die Stadt ist größter Grund- und Immobilienbesitzer. „Während man in Stuttgart Wohnungen verscherbelte und nun teuer zurückkauft.“