Kreise und Kommunen fühlen sich bei der Aufnahme von Flüchtlingen allein gelassen. Das Land müsse endlich seiner Verantwortung gerecht werden, fordern sie vor dem Flüchtlingsgipfel am nächsten Montag.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Kommunen und Kreise in Baden-Württemberg fühlen sich von der Landesregierung bei der Bewältigung der Flüchtlingsproblematik alleinegelassen. Mit Blick auf den am Montag geplanten Flüchtlingsgipfel richteten die Spitzenvertreter der drei kommunalen Landesverbände einen dramatischen Appell ans Land. Die Regierung müsse endlich gemeinsam mit den Kommunen Konzepte entwickeln, wie der enorm wachsende Zustrom von Flüchtlingen bewältigt werden könne. „Es ist eher drei Minuten vor zwölf als fünf vor zwölf“, sagte der Präsident des Landkreistages, der Tübinger Kreischef Joachim Walter; in Kreisen und Kommunen sei die Grenze der Belastung erreicht oder überschritten. Von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) fühle man sich nicht ernst genommen, kritisierte Walter und forderte: „Diese Asylpolitik des Überhörens und Aussitzens muss ein Ende haben.“ Das Land dürfe seine Probleme nicht länger auf Kosten der kommunalen Ebene lösen. Auch die Chefs des Gemeindetages und des Städtetages mahnten dringend mehr Unterstützung vom Land an.

 

Die Stimmung in der Bevölkerung sei jetzt schon fragil, sagte der geschäftsführende Präsident des Gemeindetages, Roger Kehle. Man müsse alles tun, um zu vermeiden, dass sie kippe. Daher dürften die Gemeinden nicht überbelastet werden. Derzeit herrsche eine „immer noch wohlwollende Stimmung“ gegenüber den Flüchtlingen, sagte die Präsidentin des Städtetages, Reutlingens OB Barbara Bosch. Dies könne sich jedoch ändern, wenn man die Probleme nicht in den Griff bekomme. Sie machen sich zunehmend „Sorgen um den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den gesellschaftlichen Frieden“.

So viel Flüchtlinge wie noch nie

Der Landkreistagschef Walter rechnet damit, dass in diesem Jahr 70 000 bis 80 000 Flüchtlinge nach Baden-Württemberg kommen werden; damit würde der Spitzenwert aus den neunziger Jahren, 52 000 im Jahr 1992, weit übertroffen. Notwendig sei daher ein weiterer „massiver Ausbau“ der Kapazitäten in den Landeserstaufnahmestellen, wie man ihn seit zwei Jahren anmahne; dies geschehe viel zu zögerlich. Zweifel äußerte Walter an Behauptungen, die Aufnahmemöglichkeiten seien bereits verzehnfacht worden. Bei gut 5700 regulären Plätzen sei allenfalls ein Zuwachs um das Sechsfache erfolgt. Es könne nicht sein, dass die Regierung „die eigene Aufgabe einfach an die Stadt- und Landkreise weiterreicht“, rügen die Verbände.

Mehr Unterstützung vom Land forderte die Städtetagspräsidentin Bosch auch bei der Integration der Flüchtlinge. „Die Flüchtlinge von heute sind die Mitbürger von morgen – sie werden bleiben“, sagte sie. Die eigentliche Arbeit beginne daher erst nach der Aufnahme; die Betreuung aber könne man nicht alleine Ehrenamtlichen überlassen. Die Zusage von Kretschmann, die Kommunen sollten „das Geld bekommen, das sie brauchen“, sei bisher nicht eingelöst, rügte die Rathauschefin.

Schlüssiges Gesamtkonzept angemahnt

Vom Flüchtlingsgipfel am kommenden Montag erwarten die Kommunalverbände eine „schlüssige und praxistaugliche Gesamtkonzeption“ für die Flüchtlingspolitik. Man brauche Klarheit und ein gemeinsames Verständnis, „wer in welchem Zeitraum was auf den Weg bringen und erledigen muss“. Nur mit gebündelten Kräften ließen sich die Herausforderungen bewältigen. Der Gemeindetagschef Kehle forderte dazu eine Task-Force mit Vertretern von Land und Kommunen. In einer solchen Arbeitsgruppe sollten sich Entscheidungsträger aus den neun beteiligten Ministerien und den Kommunalverbänden regelmäßig austauschen; die getroffenen Maßnahmen müssten dort überprüft und gegebenenfalls nachgebessert werden. „Wir wollen dem Land die Hand reichen“, sagte Kehle.

Neben dem Ausbau der Erstaufnahmestellen fordern die Kommunen, weitere sichere Herkunftsländer auszuweisen und abgelehnte Asylbewerber konsequent zurückzuführen. Finanzielle Anreize für Armutsflüchtlinge müssten vermindert werden. Zudem brauche man mehr Personal in den Bereichen Gesundheit und Sicherheit. Die Wohnraumförderung für Flüchtlinge, die bleiben dürften, müsse in das Landesförderprogramm integriert werden.