In seinem 2009 erschienenen autobiografischen Essay „Rückkehr nach Reims“ berichtet der Soziologe Didier Eribon, wie er nach langen Jahren der Abwesenheit nach Reims zurückgekehrt ist, den Ort seiner Herkunft, den er als Zwanzigjähriger in Richtung Paris verlassen hatte. Er erinnert sich an das bildungsferne Arbeitermilieu, in dem er aufgewachsen ist und das er jetzt mit Hilfe der kultursoziologischen Kategorien von Pierre Bourdieu analysieren kann. Er erzählt davon, dass man damals in seiner Familie selbstverständlich die Kommunistische Partei wählte. Doch nun, Jahrzehnte später, muss er schockiert feststellen: seine Mutter und seine Brüder sind längst ins Lager des Front National übergewechselt.

 

Was Eribon in einer Mischung aus subjektiver Erinnerung und soziologischer Analyse konstatiert, das können Sozialwissenschaftler mit empirischen Daten belegen. Der Sozialgeograf Christophe Guilluy hat in seinem im vergangenen Herbst veröffentlichten Buch „Le Crépuscule de la France d’en haut“ (etwa: Die Dämmerung der französischen Elite) untersucht, wo heute die Bruchlinie zwischen den beiden Frankreich verläuft. Christophe Guilluy hält die These der „Occupy-Wall-Street“-Bewegung, dem einen Prozent der Superreichen stünden die restlichen 99 Prozent Normalbevölkerung gegenüber, für naiv. Der neue Klassenkampf verläuft seiner Meinung nach vielmehr zwischen den sechzig Prozent der Franzosen, die auf dem Land oder in Klein- und Mittelstädten leben, und dem Rest, der in Metropolen wie Paris, Lyon, Toulouse oder Bordeaux zu Hause ist.

Verschiedene Lebensräume

In diesen Metropolregionen konzentriert sich, in Kategorien von Pierre Bourdieu formuliert, das ökonomische, soziale und kulturelle Kapital des Landes. Sein Träger ist eine neue Mittelschicht, die sogenannten „Bobos“ (Bourgeois-Bohémien), die gut ausgebildet ist, über sichere Jobs und ein einträgliches Einkommen verfügt, in den schicken gentrifizierten Quartieren der Städte wohnt und kulturell den Ton im Sinne eines kosmopolitischen Multikulturalismus angibt. Diese Gewinner der neoliberalen Globalisierung der vergangenen Jahrzehnte dominieren mit ihrem Habitus die politischen Parteien von rechts bis links, die Medien und auch das kulturelle Leben. Mit den Kategorien von Antonio Gramsci könnte man sagen: sie besitzen die kulturelle Hegemonie.

Der Rest des Landes, das Frankreich der Provinz, das man früher „La France profonde“ nannte, ist dagegen völlig abhängt: Die Infrastruktur verfällt, die Deindustrialisierung schreitet voran, es gibt immer weniger Jobs, von denen man anständig leben kann. Und als wäre das nicht genug, müssen sich die Bewohner dieser vernachlässigten Regionen von den hippen Metropolenbewohnern auch noch vorhalten lassen, sie seien reaktionär, rassistisch, intolerant, provinziell und spießig.

Zu ähnlichen Ergebnissen wie Christophe Guilluy kommt der Historiker Emmanuel Todd in seinem Buch „Wer ist Charlie?“, einer polemischen Reaktion auf die Demonstrationen nach dem Anschlag auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ im Januar 2015. Darin hat er sich die Mühe gemacht, die soziale Zusammensetzung jener Massen, die am 11. Januar 2015 für die Werte der Republik auf die Straße gegangen sind, genauer unter die Lupe zu nehmen. Sein Fazit: es waren keineswegs alle sozialen Schichten, die damals demonstriert haben. Die neue Mittelschicht war vielmehr unter sich, die Arbeiter fehlten. Ähnlich wie Guilluy spricht auch Todd von einem neuen hegemonialen Block in der französischen Gesellschaft, den er „neorepublikanisch“ nennt. Dieser Block vertritt gerade nicht mehr das alte republikanische Ideal der „égalité“, der Gleichheit, sondern die postmoderne multikulturelle Identitätspolitik, die statt der Klassenfrage Themen wie Geschlechterrollen, Religion und kulturelle Identität ins Zentrum der Debatten stellt.

In seinem 2009 erschienenen autobiografischen Essay „Rückkehr nach Reims“ berichtet der Soziologe Didier Eribon, wie er nach langen Jahren der Abwesenheit nach Reims zurückgekehrt ist, den Ort seiner Herkunft, den er als Zwanzigjähriger in Richtung Paris verlassen hatte. Er erinnert sich an das bildungsferne Arbeitermilieu, in dem er aufgewachsen ist und das er jetzt mit Hilfe der kultursoziologischen Kategorien von Pierre Bourdieu analysieren kann. Er erzählt davon, dass man damals in seiner Familie selbstverständlich die Kommunistische Partei wählte. Doch nun, Jahrzehnte später, muss er schockiert feststellen: seine Mutter und seine Brüder sind längst ins Lager des Front National übergewechselt.

Was Eribon in einer Mischung aus subjektiver Erinnerung und soziologischer Analyse konstatiert, das können Sozialwissenschaftler mit empirischen Daten belegen. Der Sozialgeograf Christophe Guilluy hat in seinem im vergangenen Herbst veröffentlichten Buch „Le Crépuscule de la France d’en haut“ (etwa: Die Dämmerung der französischen Elite) untersucht, wo heute die Bruchlinie zwischen den beiden Frankreich verläuft. Christophe Guilluy hält die These der „Occupy-Wall-Street“-Bewegung, dem einen Prozent der Superreichen stünden die restlichen 99 Prozent Normalbevölkerung gegenüber, für naiv. Der neue Klassenkampf verläuft seiner Meinung nach vielmehr zwischen den sechzig Prozent der Franzosen, die auf dem Land oder in Klein- und Mittelstädten leben, und dem Rest, der in Metropolen wie Paris, Lyon, Toulouse oder Bordeaux zu Hause ist.

Verschiedene Lebensräume

In diesen Metropolregionen konzentriert sich, in Kategorien von Pierre Bourdieu formuliert, das ökonomische, soziale und kulturelle Kapital des Landes. Sein Träger ist eine neue Mittelschicht, die sogenannten „Bobos“ (Bourgeois-Bohémien), die gut ausgebildet ist, über sichere Jobs und ein einträgliches Einkommen verfügt, in den schicken gentrifizierten Quartieren der Städte wohnt und kulturell den Ton im Sinne eines kosmopolitischen Multikulturalismus angibt. Diese Gewinner der neoliberalen Globalisierung der vergangenen Jahrzehnte dominieren mit ihrem Habitus die politischen Parteien von rechts bis links, die Medien und auch das kulturelle Leben. Mit den Kategorien von Antonio Gramsci könnte man sagen: sie besitzen die kulturelle Hegemonie.

Der Rest des Landes, das Frankreich der Provinz, das man früher „La France profonde“ nannte, ist dagegen völlig abhängt: Die Infrastruktur verfällt, die Deindustrialisierung schreitet voran, es gibt immer weniger Jobs, von denen man anständig leben kann. Und als wäre das nicht genug, müssen sich die Bewohner dieser vernachlässigten Regionen von den hippen Metropolenbewohnern auch noch vorhalten lassen, sie seien reaktionär, rassistisch, intolerant, provinziell und spießig.

Zu ähnlichen Ergebnissen wie Christophe Guilluy kommt der Historiker Emmanuel Todd in seinem Buch „Wer ist Charlie?“, einer polemischen Reaktion auf die Demonstrationen nach dem Anschlag auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ im Januar 2015. Darin hat er sich die Mühe gemacht, die soziale Zusammensetzung jener Massen, die am 11. Januar 2015 für die Werte der Republik auf die Straße gegangen sind, genauer unter die Lupe zu nehmen. Sein Fazit: es waren keineswegs alle sozialen Schichten, die damals demonstriert haben. Die neue Mittelschicht war vielmehr unter sich, die Arbeiter fehlten. Ähnlich wie Guilluy spricht auch Todd von einem neuen hegemonialen Block in der französischen Gesellschaft, den er „neorepublikanisch“ nennt. Dieser Block vertritt gerade nicht mehr das alte republikanische Ideal der „égalité“, der Gleichheit, sondern die postmoderne multikulturelle Identitätspolitik, die statt der Klassenfrage Themen wie Geschlechterrollen, Religion und kulturelle Identität ins Zentrum der Debatten stellt.

Politische Notwehr

Didier Eribon, der den Sprung aus dem bildungsfernen Arbeitermilieu der Provinz in die Intellektuellenzirkel der Metropole geschafft hat, weiß dennoch, dass er dort nicht wirklich dazugehört. Diese Position zwischen den Klassen erlaubt ihm aber einen unverstellten Blick auf die sozialen Verhältnisse. Eribon bestreitet nicht, dass es im klassischen Arbeitermilieu rassistische Vorurteile gab und gibt. Früher aber, so seine These, wurden diese durch die kommunistische Partei neutralisiert und damit politisch entschärft. In dem Moment aber, in dem die Parteien der Linken die Klassenfrage durch die multikulturelle Identitätspolitik ersetzt haben, sind die Unterschichten politisch heimatlos geworden.

Und genau hier wittert der Front National seine Chance, diesen von den hippen städtischen Eliten Vergessenen oder gar Verachteten wieder eine Heimat und Würde zurückzugeben. Eribon schreibt: „So widersprüchlich es klingen mag, bin ich mir doch sicher, dass man die Zustimmung zum Front National zumindest teilweise als eine Art politischer Notwehr der unteren Schichten interpretieren muss. Sie versuchten, ihre kollektive Identität zu verteidigen, oder jedenfalls eine Würde, die seit je mit Füßen getreten worden ist und nun sogar von denen missachtet wurde, die sie zuvor repräsentiert und verteidigt hatten.“

Zwei idealtypische Kandidaten

Wie es aussieht, werden sich in der Stichwahl am 7. Mai zwei Kandidaten gegenüberstehen, die diese neue Spaltung der französischen Gesellschaft idealtypisch verkörpern. Der Kandidat der metropolitanen Mittelschicht ist natürlich der Sonnyboy Emmanuel Macron: jung, dynamisch, gut aussehend, cool, sexy, Professorensohn, Absolvent des Pariser Elitegymnasiums Henri IV, der Elitehochschule ENA und ehemaliger Investmentbanker bei Rothschild, Liebling der Hipster und der Medien, nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland. Aber das waren Hillary Clinton und David Cameron auch. Ihr Schicksal ist bekannt. Und auf der anderen Seite Marine Le Pen, die sich als Mutter der Nation, als Mischung aus Jeanne d’Arc und Marianne stilisiert und eine soziale Koalition anführt, der sich traditionalistische Katholiken sowie konservative jüdische Intellektuelle wie Alain Finkielkraut und Éric Zemmour genauso zugehörig fühlen wie schwule Exzentriker wie Renaud Camus, Tierschützer wie Brigitte Bardot, wohlhabende Rentner, verunsicherte Einzelhändler und Kleinunternehmer in der Provinz und prekarisierte Unterschichten in den deindustrialisierten Regionen des Landes. Wird die Wahl an dieser Spaltung etwas ändern? Wohl kaum.

Literatur zum Thema:

Didier Eribon:
Rückkehr nach Reims. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn. Suhrkamp Verlag, 238 Seiten, 18 Euro.

Emmanuel Todd:
Wer ist Charlie? Die Anschläge von Paris und die Verlogenheit des Westens. Aus dem Französischen von Enrico Heinemann. Verlag C. H. Beck, 236 Seiten, 14,95 Euro.

Christophe Guilluy:
Le crépuscule de la France d’en haut. Flammarion. 256 Seiten, 16 Euro.