Tübinger Wissenschaftler entdeckten auf der Schwäbischen Alb die ältesten Kunstwerke der Welt. Darüber berichtet Nicholas Conard bei der Leser-Uni.

Tübingen - Katharina Koll hat erlebt, wovon jeder Ausgräber träumt: Im September 2008 findet die damals 18-jährige angehende Archäologie-Technikerin ein Stück Knochen. Neugierig dreht sie es um und stellt fest, dass es bearbeitet und mit Löchern versehen ist.

 

Sie zeigt es anderen Mitgliedern der Grabungskampagne der Uni Tübingen, die in der Höhle Hohler Fels bei Schelklingen auf der Schwäbischen Alb nach urzeitlichen Resten sucht - in einer Bodenschicht, die zum Zeitalter des Aurignacien gehört, also bis zu 40.000 Jahre alt ist.

Schnell wird klar, dass es sich um den Teil einer Flöte handeln musste - also um einen Sensationsfund. Intensiv wird an der Fundstelle weitergesucht, mit Erfolg: Insgesamt zwölf Bruchstücke aus dem Flügelknochen eines Gänsegeiers lassen sich später zu einem nahezu vollständigen Instrument zusammenfügen - der ältesten bekannten Flöte der Welt.

 Die Entstehung der Kunst in der Menschheitsgeschichte

Bisher sind in den drei Höhlen Geißenklösterle, Hohler Fels und Vogelherd insgesamt acht Flöten aus Knochen und Elfenbein entdeckt worden. Diese weltweit einmalige Häufung altsteinzeitlicher Musikinstrumente zeigt zusammen mit anderen beeindruckenden Fundstücken wie etwa der berühmten Frauenfigur "Venus vom Hohle Fels", dass die Schwäbische Alb vor 30.000 bis 40.000 Jahren die Heimat eines hochentwickelten Kulturvolks war - vielleicht sogar des ersten der Welt.

Einen ganz erheblichen Anteil an diesen sensationellen Grabungsfunden hat Nicholas Conard, der seit 1995 an der Universität Tübingen den Lehrstuhl für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie am Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters innehat.

In seinem Vortrag bei der Leser-Uni - zu dem man sich jetzt anmelden kann - wird er aber nicht nur über die Funde auf der Schwäbischen Alb berichten, sondern auch über Erkenntnisse, die sein Wissenschaftlerteam bei Forschungsgrabungen in Südafrika, im Iran und in Syrien gewonnen hat. "Die unterschiedlichen Regionen setzen zwar unterschiedliche Akzente, zusammen bilden sie aber eine sehr gute Ausgangslage, die Entstehung der Kunst in der Menschheitsgeschichte nachvollziehen zu können", fasst der Urgeschichtler zusammen.

Die Arbeit beginnt erst nach der Grabung

Ganz wichtig ist Conard die Feststellung, dass solch spektakulären Funde und Erkenntnisse nur im Team zu gewinnen sind. Unabdingbar sind vor allem die Grabungsmannschaften, die regelmäßig und systematisch die Höhlenböden auf der Alb nach Knochen und Artefakten durchsuchen, also auch nach Überresten von Eiszeitkunstwerken.

Moderne Methoden machen dabei auch den Abraum früherer Grabungen wieder interessant, so etwa an der Vogelherdhöhle im Lonetal. Dort wurden die Grabungen im Jahr 1931 innerhalb weniger Monate durchgeführt - aus heutiger Sicht ohne allzu große Sorgfalt. Entsprechend groß sind auch heute noch die Aussichten auf spektakuläre Funde.

So schön und spannend die Grabungen im Gelände auch sein mögen, die eigentliche Arbeit beginnt oft erst danach. Die Fundstücke müssen näher untersucht und analysiert werden, auch sind häufige detaillierte Analysen zur Datierung erforderlich. Dabei steht den Archäologen heute ein breites Arsenal an Methoden zur Verfügung. Dazu zählt die Radiocarbonmethode, bei welcher der Zerfall radioaktiver C-14-Kohlenstoffatome als Zeiteinheit genutzt wird.

 "Die Leute müssen aber zu uns kommen"

Recht neu bei Untersuchung prähistorischer Fundstücke ist die Paläogenetik. An der Universität Tübingen ist im vergangenen Jahr ein Lehrstuhl eingerichtet worden, der sich mit der Analyse der Erbsubstanz DNA in fossilen Knochen befasst. Dabei liegt ein Schwerpunkt des Juniorprofessors Johannes Krause - für seine Dissertation erhielt er 2010 den Förderpreis für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie - auf Genuntersuchungen an Neandertalern und anderen Urmenschen. So lassen sich neue interessante Einblicke in die Verwandtschaftsverhältnisse des modernen Menschen gewinnen.

Heute gibt es weltweit Spezialisten für alle Fundgattungen. "Die Leute müssen aber zu uns kommen, wir wollen die Funde nicht durch die Gegend schicken", berichtet Nicholas Conard - und dabei schwingt schon ein gewisser Stolz mit, dass Tübingen zum Mekka von Archäologen aus aller Welt geworden ist. Verwunderlich ist dies nicht, lassen die Funde doch tiefgreifende Schlüsse über das Leben unserer Vorfahren zu. Dazu zählt die berechtigte Vermutung, dass Glauben und Religion schon damals tief in den Sippen verankert gewesen sein müssen.

Und dass Hausmusik auch vor mehr als 30.000 Jahren "zum Alltag der Menschen dazugehörte" und wie heute zu vielen Gelegenheiten aufgespielt wurde - "einfach zum Genuss und um eine gute Stimmung zu erzeugen", wie Conard meint. Wenn die Archäologen heute eine dieser - wenn auch nur nachgebauten - Flöten zum Klingen bringen, dann kann man sich der Faszination dieses uralten Instruments nicht entziehen.

Nicholas Conard erforscht eiszeitliche Kunstwerke

Cincinnati Normalerweise wandern hochkarätige Wissenschaftler von Deutschland in die USA ab. Aber es gibt auch den umgekehrten Weg: Nicholas Conard ist 1961 in Cincinnati im US-Bundesstaat Ohio geboren. Sein Studentenleben hat ihn zu einer ganzen Reihe von Universitäten in den USA und in Deutschland geführt, unter anderem nach Freiburg und Köln. Dabei hat er sich nicht nur in Anthropologie und Ethnologie kundig gemacht, sondern auch in Chemie, Physik und Geologie. Seinen Doktor hat er 1990 an der Yale Universität in Connecticut absolviert. Doch bald zog es ihn wieder nach Deutschland: Von 1993 bis 1995 arbeitete er als Humboldt-Stipendiat am Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz.

Tübingen Direkt danach erreichte ihn der Ruf der Universität Tübingen - "einer der besten Standorte weltweit", wie er sagt. Er habe sich damals sehr geehrt gefühlt und dies als große Anerkennung gesehen. Der Träger des baden-württembergischen Verdienstordens leitet heute nicht nur die Abteilung für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie, sondern die urgeschichtlichen Museen in Blaubeuren und im Schloss Hohentübingen.

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