Die Umarmung des Volkes ist eine brandenburgische Disziplin, die Dietmar Woidke perfekt beherrscht. Als Ministerpräsident will er das weiterhin tun.

Paaren -

 

Es ist nicht einfach, im dunklen Anzug winkend auf einem Traktor zu sitzen und sich dabei nicht lächerlich zu machen. Dietmar Woidke kann das. Der Traktor hoppelt übers Kopfsteinpflaster hinweg Richtung Dorfanger. Männer in tarnfarbenen Dreiviertelhosen stehen am Bierstand, die Landfrauen haben Schmalzstullen geschmiert mit eingelegten Gurken drauf, die freiwillige Feuerwehr bietet Erbsensuppe an, es riecht danach und nach Sommergewitter, Kinder hüpfen auf regennassen Strohballen herum.

Der Ministerpräsident, der eine Ecke weiter seiner Dienstlimousine entstiegen ist, hat jetzt das marineblaue Jackett an seinem linken Zeigefinger über die Schulter gehängt. Woidke steigt aus, lächelt breit und ignoriert die Bühne, die hier im Dörfchen Paaren im Havelland extra für ihn aufgestellt wurde. Er platziert sich mitten unter den Menschen. Jemand reicht ihm ein Mikrofon. „Guten Tach erst mal“, sagt der Mann. „Ich bin Dietmar Woidke.“

Es ist Wahlkampf in Brandenburg, am Sonntag bestimmen die Wähler über ihr Parlament und auch erstmals darüber, ob dieser Mann weiter ihr Land regieren soll. Woidke hat das Amt des Ministerpräsidenten erst vor einem Jahr von Matthias Platzeck übernommen, als dieser nach einem Schlaganfall aufgeben musste.

In Brandenburg hielt sich das Urvertrauen zur SPD

Diese Phase war für die brandenburgische SPD nicht einfach. Seit das Bundesland existiert, also seit bald 25 Jahren, haben hier immer die Sozialdemokraten regiert. Was heißt regiert! Mit dem schlichten Satz: „Es gibt eine Art Urvertrauen zur SPD in Brandenburg“, hat erst neulich der Landes- und Übervater Manfred Stolpe das Phänomen beschrieben, das er nach der Wende durch seinen Kümmerer-Sonderweg mit erschaffen hat. Dieses Urvertrauen hat sich gehalten, als Stolpe sein Zepter an den Kronprinzen Platzeck übergab, es hielt sich trotz hoher Arbeitslosenquoten und einer SPD-Bundesregierung, die in dieser Zeit Hartz IV erfand, trotz schwerer wirtschaftlicher Pleiten wie der Chipfabrik oder dem Cargo-Lifter, trotz einer kurzen Entrüstung, als Platzeck 2009 eine Koalition mit der Linkspartei einging.

Als Woidke nun vor einem Jahr übernahm, da war er zweierlei: Erstens seit 2004 erst Landwirtschafts- und dann Innenminister in Platzecks Kabinett. Zweitens der Mehrheit der Brandenburger und erst recht der Deutschen unbekannt. Und jetzt? Jetzt müsste schon ein Wunder passieren, damit der neue Ministerpräsident des Landes nicht auch Woidke heißt. Die SPD liegt in Umfragen bei 33 Prozent, was dem letzten Wahlergebnis entspricht.

Solide, bodenständig, nett, sachlich – das sind die Adjektive, die den Menschen zu ihrem Neuen einfallen. Wenn der so etwas hat wie einen Amtsbonus, dann findet er sich in diesen Zuschreibungen. „Mensch Woidke“, steht auch auf dem Prospekt, der überall im Land verteilt ist und ein wenig aussieht wie ein Familienalbum, das diesen Mann an der Spitze bekannt machen soll, als das, was er ist: normal.

Ein Bauernsohn, der christlich erzogen wurde

Woidke kommt nicht wie seine Vorgänger aus Potsdam, er ist in einem Dorf bei Forst in der Lausitz geboren, ein Bauernsohn, dessen Eltern später in der LPG arbeiteten und ihn christlich erzogen. Die Familie war nicht oppositionell, Woidke tut nie so, als sei er widerständig gewesen. Aber es gab, das hat er einmal einer Zeitung erzählt – wie bei vielen jungen Männern in der DDR –, in der Armee diesen einen Moment, in dem er innerlich mit dem politischen System brach. Er war nahe der polnischen Grenze stationiert, als dort die Gewerkschaft Solidarnosc zum Generalstreik aufrief. Die jungen Soldaten waren in Bereitschaft, und für Woidke war die bloße Möglichkeit, Deutsche könnten gen Polen marschieren, undenkbar.

Nach der Armee studierte er Agrarwissenschaften in Berlin. Nach der Wende ging Woidke zu einem Tierfutterhersteller in den Westen – wie wichtig ihm die Wurzeln sind, die seine Familie seit Generationen in der Lausitz hat, wird er wohl dort gespürt haben. 1993 kam er als Amtsleiter für Landwirtschaft zurück und trat in die SPD ein.

Das Dorffest ist eine inszenierte Wahlkampfveranstaltung

Wie ein politischer Frontmann sah er lange nicht aus. Auch jetzt im Wahlkampf verzichtet er auf die große Bühne. „Das mach ich, wenn es sein muss, aber lieber ist mir das direkte Gespräch“, sagt er. Die Umarmung des Volkes ist eine brandenburgische Disziplin, die schon seine Vorgänger beherrschten. Woidke schüttelt also in diesen Wochen Hände und klopft Schultern, überall, auch auf diesem Dorffest im Havelland, das in Wirklichkeit kein Dorffest ist, sondern eine inszenierte Wahlkampfveranstaltung, wie sie woanders undenkbar wäre. Das sogenannte Strohballenfest hat null Tradition, findet aber an zig Orten statt, es ist von Parteistrategen erfunden worden – extra für diesen Kandidaten. Das Ziel ist klar: Warmwerden mit Woidke.

Die Landfrauen und die anderen Vereine haben augenscheinlich kein Problem damit, sich für die SPD einspannen zu lassen, alles wirkt harmonisch, vertraut – und hat mit dem „Kampf“ im Wort Wahlkampf genauso wenig zu tun wie die sonnigen Plakate, die den Ministerpräsidenten im Kreise seifenblasenpustender Kinder zeigen.

Gegner? Dietmar Woidke tut so, als hätte er keine, weicht der Konfrontation aus, und er wird mit dieser Strategie, die anderen kleiner zu machen, als sie sind, gut durchkommen, denn die politischen Mitbewerber haben allesamt keine Machtoptionen ohne seine SPD.

Die Linke muss wohl Federn lassen

Die Linke als Koalitionspartner muss – wie überall, wo sie mitregiert – den Umfragen zufolge wohl Federn lassen und wird bei 21 Prozent gesehen. Die CDU, lange desolat und zerstritten, hat zwar mit Parteichef und Spitzenkandidat Michael Schierack, einem Orthopäden, der in die Politik gewechselt ist, einen neuen Vormann. Und im Windschatten der Bundespartei rückte sie zeitweise in Umfragen nahe an die SPD heran. Aber Schierack ist fast drei Viertel der Brandenburger unbekannt. Er kann die Sozialdemokraten nicht frontal angreifen – mit wem sonst sollte er koalieren?

Bisher hat Woidke, der unter Platzeck als heftiger Kritiker von Rot-Rot galt, eine konkrete Koalitionsaussage vermieden, auch wenn er kürzlich in einem Interview erklärte, er sehe „keinen Grund, den Partner zu wechseln“. Auch die kleinen Parteien werden die Mehrheitsverhältnisse nicht gefährden: Nach den Umfragen wird die FDP abgeschlagen mit zwei Prozent den Landtag verlassen müssen, und die Grünen haben gute Chancen, mit mehr als fünf Prozent den Wiedereinzug zu schaffen. Stärkste unter den kleinen Parteien könnte die AfD werden, die nach der Sachsenwahl in Umfragen noch mal einen Hüpfer von sechs auf acht Prozent machte. Spitzenkandidat Alexander Gauland, der vier Jahrzehnte CDU-Mitglied war, ist als ehemaliger Herausgeber der „Märkischen Allgemeinen Zeitung“ relativ prominent.

Woidke lobt Brandenburg für sein Wirtschaftswachstum

Im Wahlkampf von Dietmar Woidke spielt das alles keine Rolle. Die anderen Parteien tauchen gar nicht auf. Was auftaucht, ist das, was Woidke seinen „Brandenburg-Plan“ nennt, man könnte auch sagen: das Weitermachen. Das klingt als Plan für dieses Land viel negativer, als es ist. „Brandenburg in guten Händen“, nennt Woidke es. Er lobt in den Sälen und auf den Plätzen seine Bürger für ihre Leistung in den vergangenen Jahren. Es gelingt ihm auf diese Weise, sie mithineinzunehmen in das, was er als Erfolgsgeschichte seines Landes sieht. Er spricht davon, dass Brandenburg ostdeutscher Meister im Wirtschaftswachstum ist, dass die Bruttolöhne gestiegen sind, die Arbeitslosigkeit abgenommen hat. Davon, dass er gute Bildung garantieren will und für Löhne kämpfen, von denen man leben kann.

Jeder im Land kennt die Geschichten der Umwälzung

Und er spricht auch – als einer, der es selbst erlebt hat – davon, wie schwierig dieser Weg gewesen sei. Von den 12 000 Menschen, die vor der Wende in seiner Stadt Forst in der Textilindustrie beschäftigt waren und den 300 Arbeitsplätzen, die nach der Wende übrig blieben. Jeder im Land kennt die Geschichten der Umwälzung, des Existenzverlustes, der Angst, viele aus eigener Erfahrung. Und da vorne steht nun einer, der diese Geschichte erzählt und würdigt.

Und da, wo es um Probleme geht – um die grenzüberschreitende Kriminalität, die den Menschen Angst macht, um die strukturschwachen Gegenden jenseits des Speckgürtels um Berlin, wo die Armut wächst und die Versorgung immer schlechter wird – dort gelingt Woidke das Kunststück, das der SPD in Brandenburg noch immer gelungen ist. An einer empathischen Kümmererpartei kann sich kein Verdruss entladen.

Ein Beispiel: er werde, so sagt Woidke in seiner Wahlkampfreihe, die aufgezogen ist wie eine Talkshow, für doppelt so viele Auszubildende bei der Polizei sorgen „wie geplant“. Gerade so, als sei er nicht die letzten Jahre der für eben diese Planung verantwortliche Innenminister gewesen. Andere Themen werden erst gar nicht angesprochen – der Großflughafen zum Beispiel, den Woidke seit seinem Amtsantritt sehr unpreußisch von sich fernhielt, indem er sich weigerte, als Aufsichtsratsmitglied Verantwortung zu übernehmen.

Es es geht um Pizza mit Salami und Jalapenos

Vielleicht, so sagt ein Wahlkämpfer nach einer dieser Runden in den letzten Wochen, vielleicht werde Dietmar Woidke bundesweit immer nur dieser Unbekannte aus Brandenburg bleiben. Aber darum geht es auch gar nicht, zumindest im Moment.

Es geht nicht um Visionen, es geht nicht um Ecken und Kanten, es geht nicht um etwas, das sie vielleicht woanders als hier Charisma nennen würden.

Genau genommen geht es um Pizza mit Salami und Jalapenos und eine Cola. Das ist die Standardbestellung, die Dietmar Woidke am Telefon dem Pizzaservice durchgibt, wenn er unter der Woche abends in seinem Potsdamer Apartment die Füße auf den Tisch legt. So erzählt er es am Ende eines langen Wahlkampfabends seinen grinsenden Zuhörern. „Woidke, wie immer“, sagt er dann zum Pizzamann in den Hörer hinein. „Ganz normal.“