Viele Firmen sind in den 1950er- und 60er-Jahren von Stuttgart in das heutige Gebiet des Rems-Murr-Kreises übergesiedelt. Eine Ausstellung und ein kleines Buch dokumentieren das örtliche Wirtschaftswunder.

Rems-Murr : Frank Rodenhausen (fro)

Waiblingen - Die erste getriebelose Einmann-Benzin-Motorsäge Stihl Contra, 6 PS, 12,5 Kilogramm, made in Waiblingen-Neustadt, hat in den 1960er-Jahren die Waldarbeit revolutioniert. Der Kärcher DS 570, im Jahr 1954 in Winnenden konstruiert, ist der erste Heißwasser-Hochdruckreiniger Europas gewesen. Der Kull-Spätzle-Schwob, eigentlich ein Haushaltsinstrument zur einfachen Herstellung regionaltypischer Teigwaren, ist von Mitte der 1950er-Jahre an von Geradstetten aus bis nach Amerika exportiert worden.

 

Eine höchst dynamische Epoche

So unterschiedlich die drei Produkte anmuten mögen, sie alle sind Zeugnisse der gleichen höchst dynamischen Epoche, die Deutschland und speziell das heutige Gebiet des Rems-Murr-Kreises geprägt haben. Seit Mittwochabend sind sie neben anderen Exponaten in einer Ausstellung im Waiblinger Landratsamt zu sehen.

Zusammengestellt worden ist die Schau von den Kreisarchivaren Andreas Okonnek und Simon Gonser. Beide sind Wirtschaftshistoriker, und beide haben sich schon während ihres Studiums mit jener Zeit beschäftigt, die gemeinhin als „Wirtschaftswunder“ bezeichnet wird. So habe es, sagt Andreas Okonnek, durchaus nahe gelegen, sich auch einmal intensiver mit der damaligen Entwicklung an Rems und Murr zu beschäftigen, die einerseits ähnlich prosperierend wie in der ganzen Republik, in Nuancen aber doch wieder ganz anders verlaufen sei. Ihre Erkenntnisse haben die beiden Kreisarchivare in der gemeinsam verfassten Schriftenreihe „Schaffensjahre 1950 – 1970, das Wirtschaftswunder an Rems und Murr“ zusammengetragen.

Ziegeleichef wirbt persönlich Italiener an

In dem Band erfährt man nicht nur, was die allgemeinen und speziellen Grundlagen gewesen sind, auf denen der Nachkriegsboom fußte, sondern auch, wie sich manches im Konkreten ausgestaltete. So soll etwa der Waiblinger Ziegeleichef Walter Hess dem allgemeinen Arbeitskräftemangel, unter dem sein Unternehmen wegen des körperlich anstrengenden Betätigungsfeldes besonders litt, höchstpersönlich entgegen gewirkt haben. Er sei mehrfach selbst nach Italien gefahren, um dort auf Marktplätzen potenzielle Arbeiter anzuwerben und diese umgehend in seinem Privatauto nach Waiblingen zu verfrachten.

Beschäftigungslosigkeit hingegen sei in der Blütezeit der Nachkriegswirtschaft eher ein Fremdwort geworden, sagt Simon Gonser. „1963 waren im gesamten Landkreis Backnang gerade einmal fünf Arbeitslose registriert, im Kreis Waiblingen waren es 23.“ Das mutet umso erstaunlicher an, wenn man sich das enorme Bevölkerungswachstum vor Augen hält, das in den Altkreisen Backnang und Waiblingen in der Zeit zwischen 1950 und 1960 mit 68 Prozent sogar noch fast doppelt so groß ausfiel wie im restlichen Land.

Wie aber ist der starke Unternehmenszuwachs in dem bis dato eher landwirtschaftlich geprägten heutigen Rems-Murr-Kreis zu erklären? „Vereinfacht gesagt: weil der Talkessel in Stuttgart so eng ist“, sagt Simon Gonser. Zahlreiche Firmen hätten in dieser Zeit aus Platzgründen Filialbetriebe in den angrenzenden Nachbarkreisen errichtet oder ihren Sitz komplett dorthin verlagert. Wega und Herion in Fellbach sind prominente Beispiele dafür, oder Bosch in Murrhardt und Waiblingen sowie Bauknecht in Schorndorf. Auch Stihl, Kärcher und Kull waren ursprünglich in Stuttgart gegründet worden.

Dokumentation des Wirtschaftswunders an Rems und Murr

Buch
Heft Nummer 8 der Schriftenreihe des Kreisarchivs mit dem Titel „Schaffensjahre 1950 – 1970 – Das Wirtschaftswunder an Rems und Murr“ umfasst gut 100 Seiten. Der Band ist im Waiblinger Landratsamt, Alter Postplatz 10, zum Preis von 2 Euro erhältlich.

Ausstellung
Rund 50 Exponate aus der Zeit der 1950er und 60er-Jahre – Produkte, Fotos, Werbeschilder, oder Prospekte – können noch bis zum 25. September während der Öffnungszeiten im Landratsamt besichtigt werden.