Der Tübinger Universalgelehrte Walter Jens wird am Freitag neunzig Jahre alt. Jahrzehntelang war ein Besuch bei Jens im Tübinger Audimax Pflicht für angehende Geisteswissenschaftler. Eine Würdigung zum Geburtstag.

Tübingen - Altphilologen spielen heutzutage, anders als im 19. Jahrhundert, keine prominente Rolle unter den meinungsführenden Intellektuellen unseres Landes. Walter Jens, der am Freitag seinen neunzigsten Geburtstag feiern kann, bildet da eine Ausnahme. Der 1923 geborene Sohn eines Hamburger Bankdirektors hat über Sophokles promoviert, sich 1949 mit einer Studie über Tacitus habilitiert und danach eine akademische Laufbahn an der Uni Tübingen eingeschlagen, sich aber im akademischen Elfenbeinturm nie häuslich eingerichtet. Die Ambitionen des Zöglings des Hamburger Elitegymnasiums Johanneum reichten vielmehr schon während seiner Studienzeit weit darüber hinaus.

 

1947 veröffentlichte Jens seinen ersten literarischen Text, 1950 seinen ersten Roman, im selben Jahr wurde er Mitglied der Gruppe 47. Die Tübinger Universität kam dieser vielseitigen Begabung entgegen, indem sie 1963 maßgeschneidert für den Universalgelehrten einen Lehrstuhl für allgemeine Rhetorik einrichtete, auf dem Walter Jens seinen vielseitigen Interessen als Schriftsteller und Übersetzer, Literaturwissenschaftler und Kritiker nachgehen konnte.

Einmal Jens pro Woche war Pflicht

Für jeden, der in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren in Tübingen ein geisteswissenschaftliches Fach studierte, war das Hochamt Pflicht, das Jens einmal pro Woche im Auditorium maximum der Universität zelebrierte. Egal, ob er über Fontane, Lessing oder Thomas Mann sprach, stets konnte man mit einem rhetorischen Feuerwerk rechnen, das mit einem an der römischen Redekunst geschulten Satzbau brillierte. Dabei ging es Jens nie um „l’art pour l’art“, er sah sich vielmehr als engagierten Intellektuellen in der Tradition von Emile Zolas „J’accuse!“ und mischte sich deshalb auch regelmäßig in aktuelle poltische Debatten ein.

Sein Ziel war letztlich kein ästhetisches, sondern ein moralisch-politisches: die Erziehung einer demokratischen Öffentlichkeit. Jens bekannte sich zu jenem Strang der deutschen Tradition, der Literatur und Theater als moralische Anstalten begriff, der humanistische Zivilisationsliterat Settembrini aus Thomas Manns „Zauberberg“ war sein erklärtes Vorbild. Besonders in Erinnerung geblieben ist Jens’ Engagement für die Friedensbewegung der achtziger Jahre, als der bekennende protestantische Christ und Pazifist zusammen mit seiner Frau Inge an der Blockade des Raketendepots in Mutlangen teilnahm.

Nach seiner Emeritierung als Professor 1988 war Jens von 1989 bis 1997 Präsident der Berliner Akademie der Künste, dann wurde es allmählich stiller um den Vielgeehrten. 2008 veröffentlichte sein Sohn Tilman in der FAZ einen Artikel, in dem er über die Erkrankung seines Vaters an Demenz berichtete. Tilman Jens’ Enthüllungen und sein ein Jahr später erschienenes Buch zum selben Thema wurden von Freunden seines Vaters als diffamierend kritisiert, aber sie haben dazu geführt, dass in der Gesellschaft inzwischen offener über diese Krankheit gesprochen wird.