Kann man den jahreszeitlich bedingten Blues wegsingen? Das fragt sich unser Kolumnist Mirko Weber.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

München, Mitte der Woche, Tiefgarage. Es war schon lange dunkel beziehungsweise überhaupt niemals richtig hell geworden an diesem Tag. Draußen hieb der Regen, fast wie hinter Hamburg, von schräg oben auf die Menschen ein, und ich stand in einer sehr schnell sehr unschön anwachsenden Autoschlange (Autoschlangen können wir in Deutschland, Blech ist heilig) vor einer Schranke, die nicht aufgehen wollte. Hinten hupten sie, vorne sagte die Dame, die schicksalhaft als erste vor der Schranke stand und aus einem nachgerade winzigen Maikäferauto stieg: „Ich kann doch auch nichts dafür.“

 

Sie war vielleicht Mitte Fünfzig, sichtlich büromüde, schien aber immer noch restfreundlich im Kern, wie man vielleicht zur Selbstrettung wird, wenn man den ganzen Tag für mächtige Kerle das Vorzimmer hütet, die nicht mal eben nur schnell die Welt retten wollen. Die Frau fuhr vor und zurück, drückte Knöpfe am Automaten, sagte: „Hallo, hören Sie mich…“, aber es hörte sie keiner. Stattdessen schnarrte lang und laut ein Wählgeräusch ab, das so klang, als wolle sich jemand mit einem Außenposten in der hinteren Mongolei verbinden. Offenbar gab es aber keinen Anschluss unter dieser Nummer. Hinten hupten sie jetzt wilder (als ob das jemals geholfen hätte), und ich dachte, dass solche Sachen eher nicht im Juli passieren, wohl aber im November, vielleicht stimmt das statistisch nicht, kann sein. Ach, November…!

Ein Erdmöbel-Song als Immunschutz

Es gibt ein wunderschönes Lied von Erdmöbel (zugegeben ein eher novembriger Bandname), das geht im Refrain nur so: „Der blaue Himmel, der blaue Himmel“ – eine Endlosschleife – „der blaue Himmel“. Es ist ein Juli-Lied, einwandfrei. Man kann es aber auch im November als Immunschutz verwenden, so wie frisch gepressten Orangensaft oder Hühnersuppe. Zumindest kann man’s versuchen.

Die Schranke war noch zu, die Frau probierte jetzt, den Wagen zurück in eine Parklücke zu lenken, aber da standen Männer in großen Autos mit der Hand auf der Hupe davor. Also Erdmöbel, „Der blaue Himmel“, den Versuch war es wert. Ich dachte, wenn wir hier länger stehen müssen, habe ich noch eine Banane, die muss dann eben eine Zeitlang reichen. Wenn man unlängst erst „Life of Pi“ gesehen hat, wo es zum Schiffbruch mit unter anderem einem Tiger und sonst nur Schiffszwieback im Kahn kommt, denkt man selbst in kleinsten Notsituationen unwillkürlich an Proviant.

Ausnahmsweise hat Sahra Wagenknecht Recht

Korrigieren Sie mich bitte, wenn ich irre, aber so die ganz enthusiastische November-Nummer im Sinfonie-, Lied-, Popsong-Genre gibt es eher nicht, oder? „All the leaves are brown…“ – yes! – das kann man singen, aber „All the leaves are gone…”? Will keiner haben. Danach, klar, wenn’s komplett kahl ist, wird es Winter, und es kommen die üblichen Verdächtigen: Schuberts Wanderer und Rudolf, das rotnasige Rentier.

Andererseits gibt es noch St. Martin. St. Martin ist der einzige, der es schafft, im November massenhaft Leute auf die Straße zu bekommen, die nicht ausschauen, als müssten sie demnächst eine kaputte Schranke in einem Parkhaus reparieren, um sieben abends, im Nordseeregen. Und die Leute singen vergleichsweise julihafte Sachen. Sie sehen etwas im November, was viele andere im November meistens nicht sehen. Dass sie aber überhaupt rausgehen, die Leute, liegt an St.Martin. Daran haben die Linken in Nordrhein-Westfalen nicht gedacht, als sie den guten Mann in dieser Woche abschaffen wollten, um stattdessen ein überkonfessionelles Sonne-Mond-und-Sterne-Fest zu inszenieren. Im Ernst. Sahra Wagenknecht hat dann gesagt, dass alles so bleiben soll, wie es ist, und ausnahmsweise sehr Recht gehabt.

Als „Der blaue Himmel“ zum fünften Mal fast zu Ende war, ist die Schranke aufgegangen, wozu noch einmal die mongolische Melodie aus dem Automaten aufspielte. Kurz danach rief eine Stimme von nicht viel weniger weit weg als die Mongolei „Hallo“, aber im Parkhaus antwortete keiner mehr. Dann hätten sich fast noch zwei BMWs ziemlich gewaltsam gegenseitig kastriert. Draußen war der November voll in Fahrt. München feuchtete.