Die Grundschulempfehlung ist in Baden-Württemberg nicht mehr verpflichtend, aber weniger Stress haben die Kinder deshalb nicht. Viele Eltern wollen nun unbedingt, dass ihr Kind ein Gymnasium besucht und das Abitur macht.

Stuttgart -

 

Klasse 6 in einem Gymnasium. An diesem Vormittag bekommen die Schüler die Deutscharbeiten zurück. Maria (Name geändert) rutscht unruhig auf dem Stuhl hin und her. Heft um Heft wird ausgeteilt, dann ist sie an der Reihe. Bange durchblättert Maria die Seiten. „4-5“ steht da in roter Schrift am Ende der Arbeit. Maria schluckt, sie will es nicht, aber die Tränen fließen.

Seit die Grundschulempfehlung nicht mehr verpflichtend ist, erleben die Gymnasien einen Ansturm. Der Anteil der Kinder in Stuttgart, die von der Grundschule auf diese Schulform gewechselt sind, ist laut Statistischem Landesamt um mehr als 14 Prozent gestiegen. Waren es im Schuljahr 2011/12 – mit verpflichtender Empfehlung – noch 52,3 Prozent, lag der Anteil in diesem Schuljahr bei 59,8 Prozent. Der Realschulanteil legte leicht zu – von 26,8 auf 29,5 Prozent. Der Anteil der Schüler, die zur Haupt- und Werkrealschule wechselten, sank unterdessen deutlich, von 20,1 auf 8,3 Prozent.

Abitur um jeden Preis

Das eigene Kind muss Abitur machen, koste es, was es wolle – das ist das Credo ehrgeiziger Eltern. Frühzeitig investieren sie in Nachhilfestunden und Hausaufgabenbetreuung. Für die betroffenen Kinder ist das mitunter ein Drama, sie stehen enorm unter Druck. „Man sieht, dass Kinder heftig zu kämpfen haben“, berichtet Thomas Diekmann, Leiter der Schülerhilfe Bad Cannstatt/Untertürkheim. Während Fünft- und Sechstklässler früher so gut wie nie Nachhilfe bekommen hätten, sei das seit dem Wegfall der verbindlichen Empfehlung anders, betroffen seien vor allem Gymnasiasten, aber auch Realschüler. Diese Kinder litten oft unter dem Gefühl, versagt zu haben. „Das kommt zu einer Zeit, in der es viel zu früh ist und man noch ganz schlecht vernünftig mit den Kindern reden kann.“

Es gebe Schüler, die durch die individuelle Betreuung in der Nachhilfe enorme Sprünge machten, so Diekmann. Das bedeute aber eine zusätzliche Belastung beim ohnehin sehr vollen Stundenplan. Greife die Nachhilfe nicht, dann sei es gut, wenn sich Eltern – wie häufig – kooperativ und einsichtig zeigten. Doch: „Es gibt leider auch einige, die ihr Kind unter viel zu großen Leistungsdruck setzen.“

Treffen Eltern immer die richtigen Entscheidungen für ihr Kind?

Ähnliche Erfahrungen hat Elisabeth Schiffer, Leiterin des Studienkreises Zuffenhausen, gemacht. „Wenn sich die Eltern über die Empfehlung hinwegsetzen, brechen die Kinder oft ein und landen früher oder später in der Nachhilfe.“ Die Negativerfahrungen nähmen zu. Schiffer schätzt, dass die Zahl der Grundschüler bei ihr um rund ein Viertel gestiegen ist. „Viele Eltern wollen ihr Kind dahin bringen, dass die Noten doch noch stimmen.“ Bei den Klassen 5 und 6 sieht sie sogar einen Anstieg um rund 30 Prozent. Eltern würden oft denken, dass ihre Kinder ohne Gymnasium und Studium später Probleme haben werden. „Die Eltern setzten sich selbst unter Druck, und das Kind mit.“ Erst langsam setze sich die Erkenntnis durch, dass es auch andere Wege zum Abitur gibt als nur das Gymnasium.

Anders als Schiffer sieht Irmgard Sinning-Brinkmann von der Schulpsychologischen Beratungsstelle des Staatlichen Schulamts Stuttgart tendenziell eine abnehmende Belastung bei den Grundschülern. „Wir haben bei Einzelfällen den Eindruck, dass der Druck in den Klassen 3 und 4 eher weniger geworden ist.“ Eine Zunahme von Beratungsfällen in den Klassen 5 und 6 könne sie bislang nicht beobachten.

Das Gymnasium einfach mal ausprobieren

Viele schätzen die Wahlfreiheit grundsätzlich. So auch die Stuttgarter Gesamtelternbeiratsvorsitzende Sabine Wassmer: „Eigentlich sind wir ganz froh, dass die verbindliche Empfehlung weggefallen ist. Einige Entscheidungen waren nicht ganz nachvollziehbar.“ Leider gebe es zu viele Eltern, die locker über die Empfehlung hinweggingen und das Gymnasium „mal ausprobieren“. „Da krieg’ ich Schnappatmung. Das geht völlig an der Psyche der Kinder vorbei“, so Wassmer. Folge sei, dass zum Teil ab dem ersten Halbjahr der fünften Klasse Schüler vom Gymnasium auf andere Schulformen wechseln müssten. Für die Kinder sei das furchtbar frustrierend. Neben den Noten sei die Persönlichkeit der Kinder entscheidend – etwa, wie leicht sie lernen und wie gut sie mit Misserfolgen umgehen können. Wassmer hofft, dass mehr Eltern erkennen, dass ein stressfreierer Weg manchmal besser zum Ziel führt. „Ich bin zuversichtlich, dass es sich zurechtrüttelt.“

Das Problem überforderter Kinder kennen auch Schulleiter. Dazu gehört Fred Binder, Rektor der Robert-Koch-Realschule. „Wir hatten jetzt zum Halbjahr schon mehrere Anfragen von Schülern anderer Schularten.“ In den Klassen 5 bis 8 gebe es so viele Elterngespräche wie noch nie. Der Trend sei jedoch schon länger als zwei Jahren zu beobachten. Fred Binder betont: „Die Realschulen sind mit Stunden nicht so ausgestattet, dass wir die Aufgaben der individuellen Förderung wirklich leisten können.“

Viele Kinder sind versetzungsgefährdet

Christana Stengel, Leiterin des Ferdinand-Porsche-Gymnasiums, berichtet, zum Halbjahr seien fünf ihrer Fünftklässler auf die Realschule gewechselt. Zwölf seien gefährdet. „Die jetzigen sechsten Klassen sind angenehm klein“, sagt sie nicht ohne Sarkasmus. In Deutsch gebe es einen extrem hohen Förderbedarf. Das Leistungsniveau insgesamt sei gesunken. Nur in der bilingualen Klasse, wo sie die Noten vorher abfragen dürften, hätten sie die Probleme nicht.

Psychologin Sinning-Brinkmann rät, die Grundschulempfehlung ernst zu nehmen. Auch sollten Eltern ihr Kind gut im Auge behalten. Falls es zum Beispiel keine Lust mehr habe, zur Schule zu gehen, oder verstärkt über Kopf- oder Bauchschmerzen klage, könnte das ein Warnzeichen sein. Weine ein Schüler gar wegen Noten, sollten Eltern bald Rat von Lehrern oder Schulpsychologen einholen. „Gemeinsam können sie nach Wegen suchen, um den Druck zu verringern.“