Wie Slowenien und die italienische Provinz Friaul zum Gedenkjahr des Ersten Weltkriegs in grenzüberschreitender Gemeinsamkeit den Tourismus fördern wollen. Geschichte und Geschäft sollen publikumswirksam verbunden werden.

Kolovrat - Mihael wartet schon oben auf dem Kolovrat. Vor ihm wummern und knattern siebzig, achtzig schwere Motorräder: Es treffen sich wieder mal Biker aus ganz Mitteleuropa auf der Passhöhe, just an dem Tag, an dem Italien in den Ersten Weltkrieg eingetreten ist. Rings um den jungen slowenischen Historiker breitet sich ein lichtes, ebenso unschuldiges wie grenzenloses Berg- und Waldpanorama aus, achthundert Meter unter dem Gipfel rauscht in ihrem viel besungenen Smaragdgrün die Soca dahin, jener Fluss, der ab der slowenisch-italienischen Grenze Isonzo heißt und gleich zwölf Schlachten seinen Namen hat geben müssen.

 

Den Kolovrat hat vor hundert Jahren urplötzlich eine militärische Front und danach, für beinahe ein weiteres Jahrhundert, eine politische Grenze zerrissen. Mihael hat da oben Militärarchäologie betrieben; er hat an den Ausgrabungen mitgearbeitet und an der Wiederherstellung, „so wie sie waren“, der italienischen Schützengräben von einst. Ein düsteres „Museum unter offenem Himmel“ ist da entstanden, und das soll er nun einer Journalistengruppe zeigen, die da auf Einladung der Grenzprovinzen Italiens und Sloweniens unterwegs ist. „Eine Viertelstunde höchstens“, hat man Mihael zugestanden: „Wie soll das gehen?“, stöhnt er und ist doch wieder froh, denn gleich muss er wieder hinunter und sechzig Kilometer das enge, kurvige Tal hinaus ins italienische Gorizia, wo sie eine „Europäische Tourismusbörse Erster Weltkrieg“ einberufen haben, um Geschichte und Geschäft im Gedenkjahr möglichst einträglich zu verbinden. Oder um, wie sie sagen, der stark steigenden Nachfrage hinterherzukommen.

Friaul und Slowenien sind die Aschenputtel der Branche

Mihael will das Mahnmal auf dem Kolovrat den professionellen Touristikern auch aus Gründen der Heimatförderung unbedingt vorstellen. Anders nämlich als die großen und reichen italienischen Nachbarregionen – Lombardei, Trentino, Venetien –, die entlang der Hochgebirgsfronten von einst längst ihre „Friedenswege“ eingerichtet haben, die ihre Forts mit viel Geld restauriert und für ihre weltkriegshungrigen Gäste längst professionelle „Erlebnispakete“ geschnürt haben, sehen sich Friaul und Slowenien bislang als die Aschenputtel der Branche. Es fehlt ihnen eine Menge touristischer Infrastruktur. Sie üben noch. Aber wenigstens üben sie inzwischen gemeinsam: „Historie, Natur und Gastronomie“ wollen sie im Verbund anbieten; einen Friedensweg – „pot miru“ auf Slowenisch – haben auch sie über die Schlachtstätten des totalen Kriegs von einst und über die Landesgrenzen von heute gezogen. Das ist viel Annäherung in ziemlich kurzer Zeit. Denn noch bis 2004, bis zum Eintritt Sloweniens in die Europäische Union, zog sich mitten durch die gemeinsame Stadt Gorizia/Gorica eine Mauer, die letzte in Europa.

„Ach, Grenzen“, sagt der friulanische Regionalhistoriker und Werbemann Federico Orso, der die Journalistengruppe begleitet, „die existieren nur in den Köpfen.“ Dann erzählt er von seinen Großvätern in dieser Region, die mit Kriegsbeginn, „von einem Tag auf den anderen“, von Freunden zu Feinden wurden, dergestalt, dass der eine auf Seiten der k. u. k. Monarchie, der andere für Italien kämpfte. Orso lässt in Gorizia das habsburgische „Görz“ wiederaufleben, das wegen seines Glanzes bis 1914 als das „österreichische Nizza“ galt, das erfüllt war von einem friedlich-bunten Völker- und Religionsgemisch, und das – nach ihrem Sieg 1918 – die „italienischen Invasoren“ gleichgeschaltet hatten: „Eine unglaubliche kulturelle Verarmung war das.“

Alle reden nur vom Ersten Weltkrieg

Dann geht’s im Bus vorbei an endlosen Kasernenanlagen aus der Zeit, in der Friaul das italienische Zonenrandgebiet war, dort, wo am feindlichen Jugoslawien und am Kommunismus die Welt endete. In diesem Friaul hatte Italien seit dem „Duce“ Mussolini bis vor wenigen Jahren 70 Prozent seiner Streitkräfte massiert. Jetzt sind alle weg, jetzt – sagt Orso – wären auch die Grenzen weg, aber gerade jetzt wüssten die wirtschaftlich verarmten Gemeinden mit den zurückgelassenen Bauten und mit sich selber nichts mehr anzufangen. Und wenn man Orso nach der Fahrt fragt, warum alle unterwegs Getroffenen trotz der größeren zeitlichen Entfernung nur vom Ersten Weltkrieg sprachen und keiner vom Zweiten, da sagt er: „Für uns war der Zweite bloß eine leidige Fortsetzung. Auseinandergerissen, zerstört hatte alles schon der Erste.”

Schützengräben. Sie ziehen sich nicht nur über Tausende von Kilometern durch die Alpen. Die Kellerei Castelvecchio in Sagrado bei Gorizia baut auch ihren Wein „auf Schützengraben-Art“ an, „alla trincea“, wie der italienische Fachbegriff heißt. Die Erdschicht über dem italienisch-slowenischen Karst ist zu dünn, deshalb braucht jede Rebstockreihe ihre eigens in den Kalkfels gehauene, tiefe Furche. Fruchtbar, sagen sie, sei diese Gegend nur an einem: an Gewehrkugeln, an Granaten, an Splittern – „immer noch, obwohl wir den Boden schon seit hundert Jahren bearbeiten und sanieren“.

Die „Apokalypse der Moderne“, wie Historiker in Gorizia den Ersten Weltkrieg nennen, dieser „erste von den Zeitgenossen erlebte Krieg“, er bleibt tief im allgemeinen Gedächtnis verhaftet – und dringt in nationalen Extremsituationen immer wieder an die Oberfläche. Von einem „Caporetto“ sprachen die italienischen Medien einstimmig, als die landeseigene Fußballelf in Brasilien zum zweiten Mal hintereinander in der Vorrunde einer WM scheiterte.

Die größte Niederlage, die Italien jemals erlitten hat

Caporetto, das ist der heute slowenische Ort genau unter dem Kolovrat, der für die Zwölfte Isonzoschlacht steht und damit für die größte Niederlage, die Italien jemals erlitten hat: Oktober 1917, mehr als 700 000 Tote, Verwundete und Gefangene, außerdem Gebietsverluste von mehr als hundert Kilometern Tiefe, und das nach 29 Monaten ergebnislosem Stellungskrieg gegen die in den Bergen verschanzten österreichisch-ungarischen Truppen.

Karfreit hieß der Ort unter den Habsburgern, Kobarid heißt er heute. Ein vom Europarat preisgekröntes Weltkriegsmuseum steht dort. Nur möchte es nicht die Militaria-Fans und die – wie spezialisierte Reiseunternehmen bei der Tourismusbörse von Gorizia mit Freuden anmerken – wachsende Schar von „Schlachten-Bummlern“ unter den Touristen ansprechen. „Wir wollen die menschlichen Dramen des Krieges, die Tragödie der Humanität zeigen“, sagt der Kustode Zeljko Cimpric. Schautafeln oder Computerbildschirme sucht man in Kobarid deshalb vergebens; hier führen ausschließlich konkrete Personen. „Nur Menschen können auf Fragen antworten“, sagt Cimpric zur Begründung, „Bildschirme können das nicht.“

Cimpric erzählt, dass unter den 60 000 Besuchern pro Jahr immer mehr Nachfahren von einstigen Soldaten sind, „die eigens von Australien herkommen, um die Orte zu sehen, wo Opa gekämpft hat“. Und dann nehmen viele auch den schweißtreibenden Weg hinauf in die Berge, in die düsteren Schützengräben auf dem Kolovrat und hinüber zum noch höheren Matajur. Ein Pfad ist heute als „Rommlova pot“ ausgeschildert, weil er jener Aufmarschstrecke entspricht, die in der Schlacht von Caporetto – zur Unterstützung der k. u. k. Truppen – ein junger deutscher Oberleutnant mit seiner Einheit unternommen hat: Erwin Rommel. Seine Planskizzen werden entlang der Strecke ebenso unbefangen gezeigt, wie auf das militärstrategisch-autobiografische Buch hingewiesen wird, mit dem Hitlers späterer „Wüstenfuchs“ seinen Ruf begründet hat: „Durchbruch bei Tolmein“.

Eine Freitreppe erinnert an die Opfer

Die Opfer kommen später dran. Unten, wieder auf italienischem Gebiet, in Redipuglia. „Land in der Mitte“ bedeutete der slawische Ortsname einst, bevor Mussolinis Faschisten ihn politisch ebenso brachial wie sprachlich sinnfrei in ein italienisches „König von Apulien“ zwangsübersetzten. Eine gigantische, granitgraue Freitreppe haben die Faschisten hier als „Militärheiligtum“ gebaut, hunderttausend Gefallene darunter begraben. Nur 40 000 von ihnen tragen einen Namen, und auf jeder Grabplatte steht: „presente! Zur Stelle!“

Hier hat Riccardo Muti unlängst das Requiem von Giuseppe Verdi dirigiert; hundert Jahre nach dem Beginn des großen Mordens waren die Staatspräsidenten von Italien und Slowenien dabei, Giorgio Napolitano und Borut Pahor, dazu die österreichische Bundesratspräsidentin Ana Blatnik; das lange Schweigen, in dem die mehreren Tausend Zuhörer nach dem Schlussakkord verharrten, könnte durchaus historischen Rang gewinnen in einem Land, das ansonsten pausenlos am Plappern ist. Im Oktober will auch Papst Franziskus in Redipuglia vorbeikommen, um „der Opfer aller Kriege“ zu gedenken.

Auf dem Monte San Michele liegen immer frische Blumen

Auf dem nahen vierfachen Karstgipfel des Monte San Michele, von dem der Blick bis weit hinaus über die Touristenstrände der Adria reicht, ist das Gedenken schon seit langer Zeit vereint. Dort oben – in extrem blutigen Kämpfen – verteidigten ungarische Soldaten 13 Monate lang das habsburgische Görz gegen die italienischen Belagerer. Nachfahren beider Truppen kommen hier beinahe jeden Tag vorbei, zahlreiche Ortspartnerschaften sind zwischen Friaul und Ungarn gewachsen. An der Gedenkstätte auf dem Monte San Michele liegen immer frische Blumen, dazu Fähnchen und Kränze und Schleifen in Grün und Weiß und Rot. Das sind sowohl die italienischen als auch die ungarischen Nationalfarben. „Als Helden kämpften sie gegeneinander, im Tod verbrüderten sie sich“, steht auf dem Gedenkstein.