Wenn der eigene Bruder zum Pflegefall wird, steht die Familie oft vor einem Leidensweg. Sie kämpft gegen die Medizin-Bürokratie und sie stößt an die Grenze der eigenen Belastbarkeit. StZ-Redakteurin Katja Bauer hat das erfahren.

Berlin/Stuttgart - Das ist kein journalistischer Text – im eigentlichen Sinn. Hier erzählt ein Mensch, der wie aus dem Nichts mit der Krankheit eines Familienangehörigen konfrontiert wird, vom Ringen mit der Behandlungs- und Betreuungsbürokratie in Deutschland. Die Autorin, Katja Bauer, ist Reporterin im Berliner Büro dieser Zeitung. Ihr Bruder erlitt vor fünf Jahren einen Herzstillstand und ist seitdem ein Pflegefall. Katja Bauer hat die gesetzliche Betreuung ihres Bruders übernommen und stößt seitdem an Grenzen: an ihre eigenen Grenzen beim Versuch, Therapien, Behandlungen und Zuwendung zu organisieren. Und an die Grenzen eines Systems von Experten, Ärzten, Juristen und ihren Standards, das Menschen zu kategorisieren versucht und bedauernd mit den Schultern zuckt, wenn sich ein kranker Mensch diesen Kategorien entzieht. Katja Bauer hat diesen Text auf dem sozialen Netzwerk Facebook veröffentlicht, um ihrer Wut, ihrem Schmerz und ihrer Machtlosigkeit Ausdruck zu verleihen. Das Echo war groß, sowohl von Leidensgenossen als auch von Ärzten und Kassen. Denn das hier geschilderte Drama ist zwar ein persönliches – aber kein Einzelfall. Fast drei Millionen Menschen in Deutschland sind Pflegefälle. Sie und ihre Angehörigen teilen viele der hier geschilderten Erfahrungen. Die Redaktion der Stuttgarter Zeitung hat sich deshalb entschlossen, Katja Bauers persönliche Schilderung in der heutigen Ausgabe zu veröffentlichen.

 

Katja Bauers Bericht: Das Solidarsystem und ich

Inzwischen ist Briefkastenöffnen mein Extremsport. Wenn ich den Schlüssel ins Schloss stecke, dann geht die Tür zum Straflager auf. Es warten Briefe. Von der Krankenkasse, von Versicherungen, von Banken, vom Amt. Graue Umschläge. Was typisch für die Briefe ist: Selten tragen sie Unterschriften. Die Unterzeichner heißen: „Ihre Krankenkasse“, „gez. Rechtspflegerin“ und manchmal auch „Dieses Schreiben wurde maschinell erstellt“. Aber das Dokument aufgerufen, ausgedruckt, in einen Umschlag gesteckt hat ein Mensch. Da bin ich sicher. Auch, weil ich es manchmal doch schaffe, mit diesen Menschen zu telefonieren. Das ist dann ein kleiner Erfolg. So lange, bis die Menschen sagen, ich möge bitte schreiben. Gut. Das mache ich jetzt mal.

Mein Bruder ist krank. Vor fünf Jahren wurde er als Mann mit 46 Jahren, wie man so sagt, plötzlich aus dem Leben gerissen. Herzstillstand, Hirnschädigung. Wenn Leute mich fragen, wie es ihm geht, frage ich immer, ob sie die kurze oder die lange Version wollen. Die kurze ist – erstens: Das wünscht sich niemand. Zweitens: Dir kann heute dasselbe passieren. Und dir und dir und dir und mir auch.

Ich hoffe für jeden, dass es nicht passiert. Allerdings passiert es in Deutschland mehr als 300 000 Menschen im Jahr – mit ganz unterschiedlichen Folgen. Das nimmt man nicht so wahr. Man nimmt lieber wahr, dass Männer jetzt Dutt tragen. Ist vermutlich ein ziemlich gesunder Schutzmechanismus.

Wenn einem so etwas doch passieren sollte, so denkt man, dann hat man ja Familie, man hat Freunde. Man hat Sicherheiten, man hat irgendwo irgendwas einbezahlt. Und eigentlich denkt man: Es passiert eh nicht. Die Wahrheit ist: Erst hat man kein Glück, und dann kommt auch noch Pech dazu. Ich dachte früher immer, dieses berühmte „Solidaritätsprinzip“ ist das Gegenteil dieser Fußballweisheit. Ein Irrtum.

Man kratzt die Hoffnungskrümel zusammen

Wenn ein Mensch krank ist, dann kostet ihn das viel Kraft. Aber auch die Menschen um ihn herum. Als Erstes kostet es Kraft zu hoffen. Dann spürt man, dass es anders kommt. Das kostet wieder Kraft. Wenn man weitermachen will – und man muss ja weitermachen –, dann kratzt man die Hoffnungskrümel irgendwie zusammen und macht aus ihnen einen Berg. Nicht zu hoch, weil: Wer will schon tief fallen? Aber auch nicht zu flach, weil: Den Horizont sieht man nur von der Anhöhe.

Wenn ein Mensch krank ist, halten das viele nicht aus. Sie verschwinden. Es gibt vermutlich viele Gründe, meistens Angst – vor der eigenen Verwundbarkeit. Und dann auch: keine Lust. Schließlich hat jeder viel zu tun und eigene Probleme. Und zuletzt: keine Ahnung, was ich mit dem reden soll. Es ist nicht leicht, bei einem Menschen zu bleiben, wenn nicht besonders viel von ihm übrig ist. Man muss sich anstrengen. Mein Bruder kann an manchen Tagen nicht viel zurückgeben. Er versucht es, schaut einen an, schließt die Augen, macht sie wieder auf. In seinem Gehirn ordnen sich die Gedanken nicht so, dass aus seinem Mund Wörter kommen. Das ist schwer. Es hilft dann auch wenig, sich vorzustellen, dass er früher so viel gegeben hat. Wie er gelacht hat. „Like champagne bubbles, pop, pop, pop . . . “, wie Tom Waits in einem der Lieblingssongs meines Bruders singt.

Mein Bruder sagt: ich will wach bleiben

Manchmal kann er aber doch sehr viel. Was für großartige Momente das sind. Wie hoch der Berg der Hoffnungskrümel sich dann türmt. Und wie tief man fällt.

Es gibt Tage, da wacht er komplett auf. Er ist fast er. Stimme, Mimik, Humor, Champagnerlachen, alles da. Er stellt eine Million Fragen – pro Minute. Was genau war, in jener Nacht, als sein Herz stillstand. Erinnert sich an Teile davon – und an sehr viel aus seinem Leben. Er telefoniert dann. Mit den Menschen, die ihm wichtig sind und die inzwischen irgendwann begonnen haben, einfach weiterzuleben, so dass sie mit diesem Anruf gar nicht mehr rechnen.

Mein Bruder sagt dann, mit fast fester Stimme: Ich will wach bleiben. Ich habe Angst, wieder unter diese Decke zu tauchen und nicht hochzukommen. Ich darf nicht einschlafen. Doch irgendwann schläft er ein – und versinkt in einen Zustand, der einer ungewollten Apathie gleicht. Er sitzt in einer Kapsel, aus der er herauswill. Für Monate.

Die Eltern binden dem Sohn die Schuhe

Jene Leser, die jetzt noch dabei sind, müssten zugeben: Der Teil klingt spannend, oder? Dachte ich auch. Man stellt sich einen Mediziner vor, der von dem Fall elektrisiert ist. Der wissen will, wie er seinen Patienten wieder an den Punkt bringen kann, er selbst zu sein. Man stellt sich vor: Wenn man der Krankenkasse diese Sache erklärt, wird einem geholfen. Vergessen Sie es. Wir sind allein. Wir – das sind meine Eltern, beide 77 Jahre alt. Sie binden ihrem Sohn die Schuhe zu, zeigen ihm, wie man Butter aufs Brot streicht, fahren ihn zur Physiotherapie, rasten manchmal aus und können nicht mehr. Immer öfter. Wenn sie doch wieder können, dann suchen sie noch im Internet nach irgendwelchen Behandlungsmethoden.

Wir – das bin auch ich. Ich bin seine kleine Schwester, lebe 700 Kilometer von meinem Bruder entfernt und bin seine gesetzliche Betreuerin. Ich habe ein Jahr darum gekämpft, dass das Gericht diese Aufgabe nicht an einen „Profi“ übergibt, der sich um ungefähr 400 Menschen gleichzeitig kümmert. Mein Vorteil: Ich koste keinen Pfennig. Ich bin auch mit dieser Aufgabe nicht die Einzige: Mehr als eine Million Menschen in Deutschland stehen unter gesetzlicher Betreuung. Wenn ich meinen Bruder vertreten will, ist das allerdings ziemlich schwierig. Keiner glaubt mir. Ich muss mich ständig rechtfertigen. Bekomme keine Auskunft. Das Betreuungsgericht möchte centgenaue Abrechnungen. Wenn ich eine Frage habe, warte ich Monate auf eine Antwort. Bei Banken muss ich mich persönlich vorstellen, um zu erfahren, ob er möglicherweise Konten bei ihnen hatte. Manchmal reicht das nicht. Dann muss ich zum Notar gehen und dort feststellen lassen, dass ich ich bin. Kostet 67 Euro. Ein Taschenbuch von Franz Kafka ist viel billiger.

Es gibt großartige Menschen – oft im Ehrenamt

Das Solidarsystem fragt Angehörige wie mich nicht, ob es ihnen dabei helfen kann – emotional schon gar nicht, aber auch nicht in der Sache. Überall gibt es Hotlines, Tutorials, „howtos“. Den Medizinischen Dienst der Krankenkasse kann man nicht mal anrufen. Er hat angeblich kein Telefon. Kein Scherz.

Ich weiß, dass das deutsche Gesundheitssystem gut ist. Es ist besser als die meisten. Woanders ist es viel schlechter. Ich will nicht undankbar sein. Und es gibt auch großartige Menschen, die helfen, zum Beispiel bei der Hannelore-Kohl-Stiftung für Menschen mit Schädelhirnverletzungen. Sie tun es ehrenamtlich oder von Spendengeldern bezahlt. Aber insgesamt ist es doch so: Mit der Katastrophe, die über die in Deutschland pflegenden Angehörigen hereinbricht, sollen diese bitte mal so eben fertig werden.

Vielleicht sollten wir das Wort Solidarsystem einfach aus unseren Gesprächen streichen. Aufrichtiger wäre: Menschen-Kosten-Nutzen-Analyse. Steht im Prinzip sogar im Gesetz. Da wird fein unterschieden. Es gibt ein Recht auf berufliche Teilhabe. Und wenn man nicht mehr arbeiten kann? Also, anders gesagt: Wenn man nix mehr bringt? Dann bleibt das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe. Es ist ein recht kleines Recht, wie sich herausstellt. Ein Recht auf ein paar Krümel, würde ich sagen. Wie groß es wird, hängt nicht vom Gesetz ab und nicht von den Institutionen. Wenn man kein Glück hat, ist man so krank, dass man einen Dachschaden hat. Wenn man dazu noch Pech hat, kämpft keiner für einen.

Man wünscht sich ein System, das hilft

Viele, sehr viele Angehörige kämpfen. Das weiß ich aus Facebook-Gruppen und Foren. Von den Klinikfluren, in denen ich sitze. Aus Gesprächen mit Müttern, Vätern, Schwestern, Brüdern. Man gibt einander dann Tipps. Etwa: Für Beatmung ist das Gerät X schlechter als Y, du musst das und das tun, um die Finanzierung von der Kasse zu bekommen. Aber auch: Ich kann nicht mehr, manchmal denke ich, ich würde gern einfach nur weglaufen.

Egal, was der Mensch hat, der krank ist – immer wieder höre ich einen Satz: Es ist sowieso schon so schwierig, wie sehr würde ich mir ein System wünschen, das mich unterstützt. Eine Krankenkasse, die hilft statt blockt. Einen Medizinischen Dienst, den man wenigstens anrufen kann, wenn er mal wieder den Antrag auf Reha abgeschmettert hat. Hilfe. Den Rest machen wir schon.

Neulich hatte mein Bruder wieder einen wachen Tag. Wir hatten riesiges Glück. Denn an diesem Tag hatte ein Arzt – ein Facharzt – Zeit, sich ihn anzusehen. Der war fassungslos: So was hatte er noch nie gesehen! Man könnte was machen! Endlich könnte mein Bruder – nach fünf Jahren – einen Platz in einer ambulanten Tagesklinik bekommen. Er könnte vielleicht andere Patienten treffen. Kontakt aufnehmen. Irgendwie einen Zipfel Leben in die Hand nehmen. Und wer weiß. Ihn vielleicht sogar festhalten? Hoffnung! So viele Krümel! Ein Riesenberg!

Ein Anruf: der Antrag auf Therapie ist abgelehnt

Natürlich habe ich einen Antrag gestellt. Der Hausarzt ebenfalls. Formular 61. Im März. Wir haben jetzt Mai. Ich weiß nicht, ob sich mein Bruder noch an jenen wachen Tag erinnern kann. Er spricht kaum.

Gestern klingelte das Telefon. Eine Frau von der Krankenkasse war dran. Ein echter Mensch. Sie rief extra an, um zu sagen, dass sie den Antrag ablehnt. Ich fragte, warum. Sie sagte, das wisse sie nicht. Das stehe in den Unterlagen. Sie habe die Unterlagen nicht. Ich könne diesen Unterlagen selbstverständlich widersprechen – sobald sie wieder bei mir eingetroffen seien. Sie habe nur die Anweisung anzurufen. Als echter Mensch. Ich sagte: Kann ich Ihnen eine Frage stellen? Ja, sicher, sagte sie. Ich fragte: Wollen Sie meinem Bruder eigentlich irgendwie helfen? Die Frau sagte, die Frage könne sie jetzt so nicht beantworten.

Vorhin war ich am Briefkasten. Die Unterlagen sind da. Es ist ein Brief, den kein echter Mensch geschrieben haben kann. Das weiß ich, weil ich ihn schon ein paar Mal bekommen habe. Die Kurzversion: „Keine positive Prognose.“ Mein Bruder bringt nichts mehr. Erst hatte er kein Glück. Jetzt ist das sein Pech.

Natürlich steht es mir frei, Widerspruch einzulegen. Fristgerecht. „Mit freundlichen Grüßen, Ihre Krankenkasse.“

Nachtrag
Nach Veröffentlichung des Textes im Internet rief ein Vertreter der Kasse an und entschuldigte sich. Er bat um ein neues ärztliches Gutachten und bot an, den Antrag auf Reha erneut zu prüfen. Dieses Recht hat ohnehin jeder Versicherte, der einer Ablehnung widerspricht.