Einer Ihrer großen Vorgänger neben Fritz Leonhardt war Frei Otto. Was für eine Rolle spielte er in Ihrer beruflichen Biografie?
Ich habe schon in meinem ersten Semester nicht nur bei Jörg Schlaich, dem Nachfolger von Fritz Leonhardt, sondern auch bei Frei Otto studiert. Auch wenn ich Frei Otto sehr schätze – meine Diplomarbeit habe ich dann doch bei Jörg Schlaich geschrieben, weil ich dort meine Art des wissenschaftlichen Arbeitens besser umsetzen konnte. Nachdem Herr Schlaich mir dann auch noch eine Promotionsstelle angeboten hat, lockerten sich die Bande zu Frei Otto. Die Universität Stuttgart hat mich 1995 zu Ottos Nachfolger berufen. Ich habe das Institut für leichte Flächentragwerke (IL) daraufhin neu aufgebaut und ausgerichtet.
Aber in der Tradition von Frei Otto.
Ja, aber in einer meiner Person angemessenen Verbindung von Kreativität und Wissenschaftlichkeit. Diese ist nicht nur durch mich selbst und Frei Otto geprägt. Ich hatte das Glück, vier Lehrer von Weltruhm zu haben. Das war zum einen der von mir überaus geschätzte Architekturtheoretiker Jürgen Joedicke, unter dem ich mich unter anderem intensiv mit organischer Architektur beschäftigte; dann der Geodät Klaus Linkwitz, der mir wichtige Zugänge zur Mathematik eröffnete; der dritte war Jörg Schlaich mit seinem unglaublichen konstruktiven Geschick; und last but not least Frei Otto mit seiner häufig überraschenden Fähigkeit, Aspekte zu erkennen, die andere nicht gesehen haben. Während meiner Zeit in Chicago kam noch der amerikanische Ingenieurarchitekt Myron Goldsmith hinzu, der schon als Student den Hochhausbau revolutioniert hat. Das sind die fünf, auf deren Schultern ich stehe.
Genau genommen haben Sie zwei Lehrstühle inne. Denn nach dem IL haben Sie als Nachfolger von Jörg Schlaich auch das Institut für Konstruktion und Entwurf übernommen.
Korrekt. Seit 2008 hatte ich zudem noch die Professur von Ludwig Mies van der Rohe am IIT in Chicago inne. Eine große Ehre, aber auch eine große körperliche Belastung, weswegen ich diesen Lehrstuhl 2014 wieder verließ. Ich wurde 2000 von der Fakultät für Bauingenieurwissenschaften als Nachfolger von Jörg Schlaich berufen. In einem symbolischen Akt habe ich die beiden Institute 2001 miteinander verschmolzen, um zu zeigen, dass Forschung und Lehre in Architektur und Bauingenieurwesen untrennbar sind – auch wenn dies nicht der landläufigen Praxis entspricht. Seitdem bringe ich die Studierenden der Architektur und des Ingenieurbaus in den Seminaren und Vorlesungen zusammen, so dass sie auch Einblick in die Sprach-, Denk- und Wertewelten der jeweils anderen Disziplin erlangen können. Ähnliches gilt für meine vielen Doktorandinnen und Doktoranden und für unsere Forschung. Wir haben hier ein sehr erfolgreiches Modell aufgebaut. Das kann man auch daran ablesen, dass aus dem Kreis meiner Schüler fast zwanzig Professoren hervorgegangen sind.
Wie sieht es mit dem Nachwuchs aus? Es wird ja immer beklagt, dass in Deutschland der wichtige Ingenieurnachwuchs fehlt.
Ich lasse nichts auf meine Studierenden und Doktoranden kommen. Oft bezeichne ich sie auch als meine Schüler. Wir haben eine Schule im besten Sinn aufgebaut, welche die Art unseres Denkens und Handelns, unsere Werte weiterträgt. Wenn Sie nach dem Zustand der Ausbildung insgesamt fragen, dann muss man in der Tat leider konstatieren, dass beim Übergang vom Diplom zum Bachelor und Master zu viele Fehler gemacht wurden. Man hat unter anderem die Regelstudienzeit beibehalten, obwohl sich der Umfang des Wissens dramatisch vergrößert hat. Das führt dazu, dass die Studierenden durch das Studium hetzen, teilweise ohne zu wissen, wo sie gerade sind. In der Regel haben sie weder die Zeit noch die Muße, das Gelehrte und Gelernte zu reflektieren, zu hinterfragen und mit ihren akademischen Lehrern zu diskutieren. Ein sehr bedauerlicher Zustand, denn schließlich muss das Studium auch eine Zeit der persönlichen und wissenschaftlichen Selbstfindung sein. Dafür braucht man aber Zeit und Muße. Wenn man den Studierenden dies nicht zubilligt, dann erzieht man nur stromlinienförmige Nachahmer, aber keine großen Wissenschaftler.
Gibt es unter Ihren Studierenden dennoch Persönlichkeiten, denen Sie zutrauen, diese große Stuttgarter Ingenieurtradition fortzusetzen?
Ja. Viele meiner Schüler sind nicht nur im Bauingenieurwesen und der Architektur verankert, sondern auch in Bereichen wie der Humanmedizin oder dem Flugzeugbau. So gibt es in meinem Umfeld viele, die in der Lage sind, neue Türen aufzustoßen. Das sind diejenigen, die uns weiterbringen. Das ist die Forschung und die Lehre, die wir brauchen.