Wer diese Gasse einmal auf und ab marschiert und in jedem Zelt eine Maß trinkt, verlässt das Oktoberfest mit den Füßen voraus. Beidseitig der schnurgeraden Straße gibt es 14 Festzelte und damit genau so viele Möglichkeiten zum Einkehrschwung. Nur wo hinein? Zur Fischer-Vroni? Oder ins Armbrustschützenzelt oder doch in die Augustiner-Festhalle? Erster Einblick: in die Ochsenbraterei, wo sich vor der Ochsensemmel-Ausgabestelle schon eine Schlange bildet. Gerade schweigt die Kapelle, und an den Tischen herrscht eine redselige Geselligkeit, die noch keine Anzeichen von Enthemmung zeigt. Außerdem bietet sich hier eine Gelegenheit zur kostenlosen Nachhilfe in Trachtenkunde: Rund um die Biertische hängen bemalte Holzfiguren im historischen Gewand, und so sieht man, wie eine Chiemseerin ausschaut, ein Altmünchner oder eine Dachauerin. Das Publikum ist bunt zusammengewürfelt, wobei viele Leute in Zivil gekommen sind. Jeans, T-Shirt, Pulli – die Wiesn ist frei von Trachtenzwang. Eine Klischeeblase zerplatzt.

 

Weiter geht’s. Pflichtbesuch im Hofbräuzelt, schon um zu überprüfen, ob sich an der Harfe des Engel Aloisius, der hier an der Decke schwebt, wirklich so viel Unterwäsche ansammelt. Stimmt tatsächlich, manchmal muss es beim Ausziehen rasch gehen, ob beim Trachten-Aldi oder in anderen Momenten. Im Hofbräuzelt brodelt es übrigens am Spätnachmittag schon, und es bedarf der Gelassenheit eines Wiesn-Veterans, um jetzt noch in voller Tracht durch die engen Gänge zu spazieren, wobei der Herr seine Nordic-Walking-Stöcke im Takt der Musik auf den Holzboden donnert. Unweigerlich beschleicht einen der Gedanke an einen Ochsen, der stoisch beim Almabtrieb seinen Weg findet und stur geradeaus schaut.

Enorme Fleischeslust

Aber das ist eine krude Fantasie. Raus aus dem Zelt, in dem der FC Betrunken München ein Prosit der Gemütlichkeit röhrt, und zu einem der Imbisse. Wenn man sich Mühe gibt, findet man hier auch einen Tofuburger, aber beim Oktoberfest gibt es keinen Veggie Day. Die Fleischeslust ist enorm: Wurstbraterei, Ochsenbraterei, Kalbsbraterei, Entenbraterei. Als Tier empfiehlt es sich – wenn möglich – einen Bogen um das Fest zu machen. Das Essen entschleunigt den Rausch, das verträgt sich gut mit einem Bummel über die „Oide Wiesn“. Im nostalgischen Eck des Rummels finden sich hochbetagte Konzertorgeln, Autoscooter aus der Wirtschaftswunderzeit und ein Stand des „Fördervereins Bairische Sprache und Dialekte e. V.“. Der Verein unterzieht die Besucher an Ort und Stelle einem Multiple-Choice-Test auf Bayerisch. Was um Himmels willen ist der/die/das „Banzn“? Durchgefallen, war klar, aber die Dame vom Förderverein zwinkert trotzdem nett und reicht einen Aufkleber. Stuttgart ist stolz auf Hegels Dialektik, aber nicht auf den schwäbischen Dialekt.

Jetzt auf die Zielgerade einbiegen. Promiauflauf im Weinzelt. Es ist natürlich ein Witz, den Abend auf dem größten Bierfest der Welt ausgerechnet im Weinzelt zu verbringen, aber Schwamm drüber! Sonst wäre einem entgangen, wie Patrick Lindner im Blitzlichtgewitter kokett mit den Fotografen schäkert: „Bin ich scharf?“ Plötzlich tauchen bei der Party eines Volksmusiksenders Kindheitsfiguren auf, wie der Sänger Günther Sigl von der Spider Murphy Gang und Leslie Mandoki von Dschingis Khan, und dann blitzt es so gewaltig am Treppenaufgang, dass jetzt bestimmt Boris Becker kommt oder der fleischgewordene Engel Aloisius in Damenunterwäsche. Am Ende ist es aber nur Caroline Reiber.