Wildpoldsried im Allgäu erzeugt das Dreieinhalbfache seines Strombedarfs aus erneuerbaren Energien - und es rechnet sich sogar.

Stuttgart - Den Schraubenschlüssel in der einen Hand, die Taschenlampe in der anderen, bückt sich Arno Zengerle über seine Turbine. "Endlich läuft sie wieder", freut er sich, "der letzte Monat war viel zu trocken." Fast jeden Tag schaut der Bürgermeister von Wildpoldsried in dem stillgelegten Sägewerk vorbei. Heute lässt der Regen des Sturmtiefs die Anlage sausen. In einem Meter Tiefe strömt das Wasser des Dorfbachs und treibt das Turbinenrad an. Früher brachte es eine Säge in Schwung, inzwischen ist es an den Generator des Bürgermeisters angeschlossen. Die Messgeräte zeigen sechs Kilowatt Leistung. Knapp zehn Cent erhält Zengerle für jede Kilowattstunde Strom, die er ins Netz einspeist. Nur wenige Euro am Tag wirft die Anlage ab. Aber das ist zweitrangig. Technik ist für den CSU-Politiker Liebhaberei, und seit er seine Turbine zerlegt und wieder zusammengebaut hat, ist er ihr verfallen.

 

Der Allgäuer Bürgermeister und seine Mitstreiter haben Wildpoldsried den ökologischen Aufschwung gebracht. Im Klimaschutz spielt das 2500-Einwohner-Dorf bei Kempten in der Spitzenklasse mit, die Gemeinde erzeugt das Dreieinhalbfache ihres Strombedarfs selbst. Sie haben umgesetzt, wovon die Bundesregierung noch träumt - eine grüne Zukunft ohne Atomkraftwerke. Kanzlerin Merkel setzt sich seit der Reaktorkatastrophe von Fukushima entschieden für die Energiewende ein, sie will den Anteil des regenerativen Stroms in der Republik von 17 Prozent auf satte 80 Prozent im Jahr 2050 erhöhen.

Die Wildpoldsrieder machen vor, wie eine nachhaltige Energiepolitik funktioniert. Sie nutzen die Rohstoffe, die die Natur in dieser Gegend Bayerns bietet. Den Wind, der kräftig bläst im Voralpenland. Das Holz der Fichtenwälder. Die Sonne, die hier 1755 Stunden im Jahr scheint. Das Grünzeug, aus dem die Landwirte Biogas gewinnen. Selbst die Kraft des Dorfbachs geht nicht verloren.

Im Gemeinderat sitzt kein einziger Grüner

Eine ganze Gemeinde sagt sich vom Atomstrom los. Doch gegen das Etikett alternativ wehren sich viele mit Vehemenz. Im Gemeinderat sitzt kein einziger Grüner. Der einstige Bioladen hat schon vor Jahren das "Bio" aus seinem Sortiment gestrichen. Die gesunde Kost war den sparsamen Allgäuern zu teuer. Es ist nicht in erster Linie ihr Ökobewusstsein, das sie motiviert. Den Wildpoldsriedern geht es ums Geld. "Es zahlt sich aus", ist der wichtigste Grundsatz der Gemeinde. "Allein die Fotovoltaikanlagen auf den öffentlichen Gebäuden haben im vergangenen Jahr 160.000 Euro gebracht", sagt der Bürgermeister. Gäbe es nicht den Denkmalschutz, hätten die Wildpoldsrieder sogar ihrer historischen Dorfkirche Sonnenkollektoren verpasst.

Mit dem CSU-Mann Zengerle ist der Klimaschutz ins Rathaus eingezogen. Dort sitzt der 54-jährige Konservative zwischen Feng-Shui-Brunnen und Motorradkalender und erzählt nicht ohne Stolz von den jährlichen Sammelbestellungen für Solar- und Fotovoltaikanlagen. Das brachte Wildpoldsried in der Solarbundesliga damals auf Anhieb auf Platz acht, ein Senkrechtstarter. In der Tabelle vergleichen sich deutsche Gemeinden, und dabei zählen nicht Tore, sondern Kilowattstunden.

Der Wettbewerb ist ansteckend. In Wildpoldsried ist das Energieerzeugen Volkssport geworden. Die Bürger machen mit, alle wollen daran verdienen. Besser als ein Pokal ist die Erwähnung auf der Homepage der Gemeinde. Dort zeigt sich jeder gerne mit Foto und den wichtigsten Daten: Die Bauern, die Gülle und Silage in den Fermenter der Biogasanlage kippen; die Betreiber der drei Wasserkraftwerke im Ort, darunter auch der Bürgermeister höchstpersönlich; und allen voran Windbauer Wendelin Einsiedler, den alle nur den Windpapst nennen und in dessen Anlagen die Bürger ihr Erspartes gesteckt haben. Fünf Räder stehen bereits auf Wildpoldsrieder Gemarkung, zwei große 2,5-Megawatt-Turbinen, die mit ihren 180 Metern alles Bisherige überragen, sollen dazukommen. "Wir könnten mit Windkraft den gesamten Strombedarf des Allgäus decken", sagt Einsiedler und hat sich gefreut, dass bei der letzten Bürgerversammlung die neuen Anlagen kein Thema mehr waren. "Die Energieerzeugung hat Vorrang vor der Optik", sagt Einsiedler - das hätten mittlerweile auch die letzten Landschaftsschützer eingesehen.

Eine neue Marschroute fürs Dorf

Der Ökokurs in Wildpoldsried wurde vor etlichen Jahren eingeschlagen. "Wir müssen uns überlegen, was wir unseren Kindern hinterlassen", hat Zengerle seine Gemeinderäte 1999 ermahnt und sich mit ihnen für ein Wochenende in ein ehemaliges Benediktinerkloster zurückgezogen. Die Räte ließen sich auf die Klausur ein und entschieden sich für mehr Basisdemokratie. Die Bürger sollten sagen, was sie wollen. Drei DIN-A4-Bögen umfasste die anonyme Umfrage, die in die Briefkästen gesteckt wurde. Sie reichte von der Bewertung des öffentlichen Personennahverkehrs bis zum Gestaltungsvorschlag für den Ortskern. Auch die Meinung zu zwei geplanten Windkraftanlagen wurde erfragt: 92 Prozent befürworteten den Bau. Aus den Wünschen formte der Gemeinderat einen Rahmenplan, die neue Marschroute fürs Dorf.

Darauf hatte der Bürgermeister gewartet, er konnte loslegen. "Wir haben viel Holz", hat Zengerle gesagt und daraus eine Sporthalle bauen lassen. Aufs Dach packte er noch ordentlich Fotovoltaik und sicherte sich damit ein zinsgünstiges Darlehen vom Freistaat Bayern. Auch das öffentliche Parkhaus in Wildpoldsried ist aus Holz gezimmert und damit das erste seiner Art in Deutschland, behauptet der Rathauschef. Mit seiner guten Nase für Fördertöpfe hat es sich Zengerle zur Hälfte von der Europäischen Union bezahlen lassen; die finanziert mit ihrem Programm "Leader" innovative Ideen auf dem Land.

Schön warm haben es die Kirchgänger

Weg vom Öl, hin zum Holz, das ist das Ziel der Allgäuer Gemeinde. So brauchte es für den Bau einer eigenen Dorfheizung nicht viele Worte, sondern einen guten Geschäftsplan. Die Anlage, die Holzpellets verbrennt, kostete eine halbe Million Euro und spart fast 150.000 Liter Heizöl oder 470 Tonnen Kohlendioxid im Jahr ein. Das erzählt Sigmund Hartmann jedem, der ihn im Heizkeller unterm Dorfsaal besucht. Die Anlage ist sein ganzer Stolz, das sieht man ihm an. Der 70-jährige pensionierte Stahlgießer hat sie selbst mitfinanziert.

Die Heizung pumpt Wärme in die unterirdischen Rohre, die im Rathaus und in der Sporthalle enden. Schön warm haben es die Kirchgänger, und schön warm hat es auch Familie Hartmann in ihrem Einfamilienhaus. Gut 40 öffentliche und private Gebäude sind an das Nahwärmenetz angeschlossen. Mittlerweile wird zudem die Abwärme aus einem Blockheizkraftwerk eingespeist, das mit Biogas betrieben wird. "Als Gemeinschaftsprojekt rechnet sich das", weiß der Hüter der Heizung, der bei sich zu Hause sowieso in eine neue Anlage hätte investieren müssen und nun jährlich 400 Euro spart. Wie viele im Ort hat auch er eine thermische Solaranlage für das Heißwasser auf dem Dach. Der Abschied vom Öl war den Hartmanns wichtig. Erstens, weil es dann nicht mehr so stinkt im Keller, zweitens, weil es billiger ist, und drittens, "weil Kempten näher ist als Saudi-Arabien", sagt Hartmann. Per Lastwagen werden die Pellets angeliefert, alle ein bis zwei Wochen eine 15-Tonnen-Ladung.

Alle schauen sich etwas ab

Die Hightechheizung sprich Bayrisch. Wenn sie kränkelt, ruft sie bei den Hartmanns an, tagsüber oder mitten in der Nacht. "Holzkessel, Vorlauf stimmt nicht", sagt eine Tonbandstimme in Mundart. Dann zieht Sigmund Hartmann seine Jacke über, hofft, dass seine Frau gleich wieder einschläft, und geht hinüber zum Patienten. Meistens reichen wenige Eingaben auf dem Display, dann ist alles wieder heil.

Wildpoldsried ist weit über die Region hinaus bekannt, die Einträge im Goldenen Buch der Gemeinde beweisen es: Aus Japan und vom Bodensee, von den Grünen und aus den Reihen der CSU-Parteifreunde kommen diejenigen, die sich vom Energiedorf etwas abschauen wollen. Gerne erzählt der Bürgermeister den Gästen die Geschichte, wie er für Altbausanierung warb. Vom Heißluftballon aus wurde mitten im Winter ein Film gedreht. Hauptdarsteller waren die Dächer. Lag noch Schnee drauf, stimmte die Dämmung, war das Weiß schon geschmolzen, hieß das für den Hausbesitzer: Hier wird zum Dach hinausgeheizt. Die Altbauten als Energieschleuder sind nicht nur in Wildpoldsried ein Problem. Ihr Heizölverbrauch liegt bei 20 und 25 Litern pro Quadratmeter Wohnfläche im Jahr. Das lässt sich durch moderne Technik bei Dämmung, Lüftung und Heizung drosseln - auf fünf Liter oder noch weniger. Eine Investition, die sich bei steigenden Heizölpreisen langfristig auszahlt.

Bürgermeister hat wenig übrig für Fahrräder

Nicht nur den Bürgern schaute Zengerle auf die Finger, auch die kommunalen Energiebilanzen ließ er prüfen. Mitarbeiter der Gemeinde mussten monatlich den Verbrauch von Heizöl, Strom und Wasser in Kindergarten, Schule, Rathaus und Feuerwehr kontrollieren. Stromfresser fielen beim Ablesen der Messgeräte auf: Im Kindergarten standen die Boiler auf Maximum, eine vermeidbare Energieverschwendung. Bei der Feuerwehr lief die Heizung wegen eines undichten Ventils auch im Sommer. Und keiner hatte es bemerkt. Das Dorf sparte während der zweieinhalb Jahre Projektlaufzeit 6300 Euro. Solche Zahlen präsentiert Zengerle seinen Besuchern gerne - er kramt dazu seinen Solartaschenrechner aus der Schreibtischschublade.

Die Suche nach Einsparpotenzialen ist auch in Wildpoldsried nicht grenzenlos. Spätestens beim Auto hat sie bisher aufgehört. Bürgermeister Arno Zengerle hat wenig übrig für Fahrräder, liebt seinen Leasing-BMW und genießt die ausgedehnten Ausflüge auf einem seiner Motorräder. Doch neuerdings kommt sogar der Rathauschef ins Grübeln, ob er nicht umsatteln soll. Siemens und die Allgäuer Überlandwerke haben das Dorf als Modellgemeinde für ein intelligentes Stromnetz ausgewählt. Mit dem grünen Strom soll vor Ort ein Fuhrpark an Elektroautos aufgeladen werden. Und Zengerle will sich ans Steuer eines Elektrofahrzeugs wagen. Ganz geheuer ist ihm die Sache aber nicht, er vertraut auf eine Rückfallposition: "Meine Frau hat ja auch noch ein Auto."