„Bei Regen im Saal“ heißt der neue Roman von Wilhelm Genazino. An diesem Donnerstag stellt der Autor das Buch im Literaturhaus Stuttgart vor. Die StZ-Autorin Julia Schröder hat es gelesen.

Stuttgart - Unser Leben ist ein Schatten, wusste das Alte Testament. Und es war damit nicht allein. Das Wissen um die Eitelkeit allen irdischen Strebens durchzieht die Menschheitsgeschichte seit den alten Ägyptern. Heute allerdings scheint der Vanitas-Gedanke in den westlichen Konsumgesellschaften mit ihrem Mangel an metaphysischen Alternativen allenfalls noch als Bestandteil des Unnützen Weltwissens auf. Die Romanhelden des Schriftstellers Wilhelm Genazino wirken in den para-urbanen Gefilden, die der Konsumismus hervorbringt, wie wandelnde Denkmale. Sie gemahnen an die scheinvitale Vergänglichkeit der hergerichteten Oberflächen wie der zugerichteten Identitäten.

 

Auch der die längste Zeit namenlose Ich-Erzähler von Genazinos jüngstem Roman mit dem rätselhaft bleibenden Retro-Titel „Bei Regen im Saal“ vereint in und um sich, was die Kulturhistorie an einschlägiger Symbolik parat hält – einen wackelnden Backenzahn, büschelweise ausgehende Haare, neben der Waschmaschine sterbende Nachtfalter: „An manchen Tagen fühlte ich, wenn ich mir an den Kopf fasste, nicht mehr meine Haut und meine Haare, sondern immer gleich den Schädel.“

Beunruhigende „Verpfuschung“ des Lebens

Da kann ein Mann in seinen Vierzigern schon mal ins Grübeln kommen. Auf Seite 135 von 158 erfahren wir, dass er Reinhard heißt, irgendwann auch, dass sein tatsächliches Alter 43 Jahre beträgt, ihm selbst ist es bezeichnenderweise gleichviel, ob er 41 oder 48 ist. Es überrascht kaum, dass sein Leben (dessen beginnende „Verpfuschung“ ihm störend ins Bewusstsein tritt) so gar keinen Karrierefortschritt erkennen lässt, sondern vielmehr von einer Promotion in Philosophie über Gelegenheitsbeschäftigungen wie Barkeeper und Nachtportier zu einer verachteten Anstellung als Mitarbeiter des „Taunus-Anzeigers“ geführt hat.

Dazu kommt die Sache mit den Frauen. Der halbherzige Versuch, sich als „Überwinder“ von allerlei Weltüberdruss zu empfehlen, hat zwar die eine oder andere vielversprechende Anbandelung mit Kolleginnen wie Frau Steuben (genannt Anita) und Fräulein Nägele zur Folge. Auch eine alte Bekannte namens Beatrix, mit der ihn ein „Halberlebnis“ verbindet, kreuzt auf, nicht zu vergessen allerlei Friseusen und Bäckereifachverkäuferinnen. Aber all das führt zu nichts. Schlimmer noch: Dauerfreundin Sonja ist irgendwann von seiner offensiven Anpassungs- und Tüchtigkeitsverweigerung so genervt, dass sie, eine feurige Geliebte und durchaus aufstiegsorientierte Finanzbeamtin, ihn Knall auf Fall aus ihrem Leben wirft, um überstürzt einen Kollegen zu heiraten. Dabei hat er doch um sie gekämpft, allerdings „leider nur unsichtbar innerlich“.

Wohliger Schauder beim Wiedererkennen

Dieser Schlag macht die Dinge nicht besser – für den Erzähler. Für den Leser schon. Man fühlt sich angenehm hin und her geworfen zwischen dem Wiedererkennen eigener Selbstzweifel und Ängste, widerstrebendem Verständnis für einen, dem das Verpassen von Lebenschancen Programm ist, und wohligem Schauder angesichts der Schrecknisse von Familientreffen, Kaufhausexkursionen, Büroalltag und Sockenkauf beim „bekannten Kaffeeröster“. In dieser Welt ist das Betrachten von Grünenburgpark-Kaninchen oder Main-Möwen oft die letzte Rettung. Obacht ist dennoch geboten; das Nicken der städtischen Tauben könnte die Erinnerung an die lang verstorbenen Eltern wachrufen.

So geht es zu, im Leben und in Genazinos Erzählen: Lieben scheitern, Hoffnungen gehen fehl, Menschen sterben (in diesem Buch sind es mehrere), alles ist angetan, elegisch zu stimmen. Was unser über „Kants Apodiktizität“ promovierter Philosoph sogleich thematisiert: „Mein Leben verwandelte sich mehr und mehr in eine Elegie, an der ich allmählich Gefallen fand.“ Im selbstredend „fast auseinanderfallenden“ Lexikon liest er, die Elegie sei „Ausdruck von Trauer und Tod, Verlust, Trennung bzw. Widerspruch zwischen Ideal und Leben“. Das sagt einiges auch über diese Geschichte eines Mannes, dem in jeder Hinsicht die Felle davon schwimmen.

Der Adel des Elegischen ist nicht das letzte Wort

Aber das Elegische ist im Hinblick auf den Widerspruch zwischen Ideal und Leben nicht das letzte Wort, das lässt die nachmetaphysische Moderne mit ihrem Ablenkungsangebot und ihrer Leistungserwartung, siehe oben, nicht zu. Deshalb können die Helden des Wilhelm Genazino für sich auch nicht mehr den Adel des Müßiggängers, des Flaneurs für sich in Anspruch nehmen, sondern verhalten sich zu ihrer Umgebung als Streuner, wo nicht Teilzeit-Penner. Zugleich stellt sich verlässlich die Wirkung des Komischen ein.

Was das Komische sei und wie es entsteht, darüber hat der Büchnerpreisträger von 2004 viel nachgedacht und sein Publikum an seinen Überlegungen auch reichlich teilnehmen lassen. Zuletzt hat er das in „Tarzan am Main“ getan, der zu seinem siebzigsten Geburtstag im vergangenen Jahr erschienenen Sammlung von „Spaziergängen in der Mitte Deutschlands“. Genazino-Leser werden im neuen Roman einiges aus diesen autobiografischen Skizzen wiederfinden – wie bei diesem Autor die Unterschiede zwischen den einzelnen Büchern wie die zwischen Literatur und Leben und zwischen Denken und Erzählen so enorm ja ohnedies nicht sind.

Das Komische bei Wilhelm Genazino hat mit Lakonie zu tun, mit abrutschendem Pathos, mit schrägen Einfällen und dem schiefen Blick, vor allem aber damit, dass die Beobachtung so lang ausgehalten wird, bis „der Schädel“ durchscheint, sprich, bis die bunte Ding- und Warenwelt sich ihres Fleischs entledigt und anfängt, mit den Knochen zu klappern. Was nicht heißt, dass das mit Sonja und Reinhard nicht wieder in Ordnung kommen kann.

Wilhelm Genazino: Bei Regen im Saal. Roman. Carl Hanser Verlag, München. 158 Seiten, 17,90 Euro. Das Buch erscheint am 28. Juli, der Autor liest am 24. Juli im Literaturhaus Stuttgart.