Unterwegs auf der „Route der Industriekultur“: Wie geht es den alten und neuen Unternehmen im Filstal zurzeit?

Regio Desk: Achim Wörner (wö)

Göppingen - Jörg Kochendörfer hat ein ganzes Arsenal an Utensilien auf dem Konferenztisch ausgebreitet: ein gezackter Mahlkranz aus einem Kaffeevollautomaten ist dabei, die Dichtungsscheibe aus einem Wasserhahn, ein Zahnimplantat und ein künstliches Hüftgelenk. Lange raten muss der Gast nicht, was all die Gegenstände gemeinsam haben: Sie sind aus Hochleistungskeramik geformt, einem Material, das deutlich härter ist als Stahl, kaum verschleißt und extremste Temperaturen aushält, das gut isoliert und unheimlich flexibel einsetzbar ist. Im Handy sind Keramikteile ebenso verbaut wie in Windkraftanlagen oder in Kühlwasserpumpen. Bei Bedarf werden mit einem Substrat aus keramischem Pulver selbst Fahrzeuge gepanzert.

 

Die Einführung in die Welt der Keramik findet bei der Firma CeramTec in Plochingen statt – in dieser Branche einer der großen Spieler rund um den Globus. 3600 Mitarbeiter hat das Unternehmen, verteilt auf 18 Standorte weltweit. 700 davon sitzen in der Konzernzentrale in Plochingen, 150 in Ebersbach an der Fils. Die Ursprünge liegen beim Porzellanhersteller Rosenthal im nordbayrischen Marktredwitz und der 1954 in Plochingen aus der Taufe gehobenen Südplastil, später Feldmühle AG. Die Mutter des Unternehmens sitzt heute aber in England – und mit der Herstellung zerbrechlicher Teller und Tassen hat CeramTec nichts mehr zu tun.

Die Traditionsfirma hat in den vergangenen Jahren immer wieder durch spektakuläre Projekte auf sich aufmerksam gemacht. Bei der Winter-Olympiade in Sotschi beispielsweise waren die Anlaufspuren der Sprungschanzen mit ihrem multifunktionalen Werkstoff ausgelegt. Entstanden sei die Idee für solch eine Spezialanwendung aus der Laune einiger Mitarbeiter heraus, die auf einer Skihütte über ihr Lieblingsmaterial diskutiert hätten, erzählt Kochendörfer. Und im vergangenen Jahr trotzten in der Sonde Rosetta verbaute CeramTec-Bauteile – Antriebselemente zur Steuerung von Messnadeln – den minus 273 Grad Celsius bei der Erkundung des Kometen Tschurjumow-Gerassimenko. All dies rund 510 Millionen Kilometer von der Erde entfernt. Allein die Reise durch das Weltall hatte zehn Jahre gedauert.

Von Global Playern zu Notfällen

CeramTec steht für eine neue Blüte im Filstal, wo es nach dem Aufstieg im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem industriell geprägten Revier manche Höhen, aber auch Tiefen zu verzeichnen gab. Speziell die Wirtschaftswunderzeiten der 1950er Jahre wirkten im Nachhinein wie ein Strohfeuer, das nach dem Zweiten Weltkrieg allerorten aufgeflammt war – aber an vielen Stellen auch rasch wieder erlosch.

Wer das kleine, aber feine Heimatmuseum in Ebersbach besucht, bekommt einen Eindruck von den wirtschaftlichen Widrigkeiten, die sich von den 1960er Jahren an vor allem im Bereich der Textilindustrie, die das Filstal lange geprägt hatte, zunehmend bemerkbar machten. Der Gang durch die Ausstellung wird zu einer ernüchternden Zeitreise, die vom Untergang zahlreicher einst renommierter Firmen kündet. Die 1886 erbaute Baumwollspinnerei Martin & Söhne beispielsweise verfügte über bis zu 40 Meter hohe Kamine als sichtbares Zeichen einer florierenden Industrie – der letzte Schornstein wurde 1976 gesprengt. Oder die von Gottlieb und Friedrich Häfele 1905 gegründete Harngarnweberei: 1973 hat sie Vergleich angemeldet, ein Jahr darauf wurde sie aus dem Handelsregister gelöscht.

Auch andere Unternehmen im Filstal, die teilweise auf eine große Tradition zurückblicken und nach dem Zweiten Weltkrieg vollends zu Global Playern geworden waren, gerieten irgendwann in Not. Märklin, das sich binnen 150 Jahren von einer kleinen Blechspielwarenfabrik zu einem weltbekannten Hersteller von Miniatureisenbahnen mauserte, ist ein Beispiel dafür – aber auch dafür, dass es nach einer Durststrecke zuletzt unter neuen Vorzeichen aufwärts ging. Märklin war 2006 nach Jahren sinkender Umsätze an eine britische Finanzgruppe verkauft worden, meldete 2009 Konkurs an und berappelt sich seit der Übernahme durch die deutsche Spielzeugherstellerfamilie Sieber.

Besuch beim Wirtschaftsförderer

Oder der 1839 gegründete Pressenbauer Schuler, der weltweit 5400 Mitarbeiter zählt: 2012 übernahm der österreichische Andritz-Konzern die Aktienmehrheit von der Gründerfamilie. Das Aus für die Gießerei und der Abbau von Arbeitsplätzen bereiteten in Göppingen Aufregung. Doch jüngst bei der Bilanzpräsentation versprühte der Firmenchef Stefan Klebert Zuversicht. Eben war der größte Einzelauftrag in der Firmengeschichte eingefahren worden: 150 Millionen Euro schwer, drei Pressenlinien für VW-Werke in China. Demnächst soll am Hauptsitz der Spatenstich sein für ein 40 Millionen Euro teures Entwicklungszentrum. „Das ist ein klares Bekenntnis zum Standort“, sagt Kleber.

Walter Rogg hört solche Botschaften gerne. Der Chef der regionalen Wirtschaftsförderungsgesellschaft sitzt im LBS-Hochaus in Stuttgart, von wo aus er die Wirtschaftsförderung auch im Kreis Göppingen mit koordiniert und Impulse setzt. Er beobachtet seit zwei Jahrzehnten die Entwicklung im Ballungsraum am Neckar, registriert Firmenfusionen, Umstrukturierungen, Eigentümerwechsel – weg von Familienbetrieben hin zu Beteiligungsgesellschaften. Er hört Geschichten wie die von WMF: Der Besteck- und Kaffeemaschinenhersteller in Geislingen ist in die Fänge einer internationalen Holding geraten, die das Unternehmen – so die Lesart der Kritiker – ausschlachten will. Der Vorstandschef Peter Feld will WMF nach eigenem Bekunden profitabler machen – und damit langfristig das Überleben sichern.

Der Wirtschaftsförderer Rogg plädiert für eine differenzierte Sichtweise und lässt Zahlen sprechen. Detaillierte Daten für das Filstal an sich liegen zwar nicht vor, da dieses auf den letzten Kilometern auf dem Gebiet des Kreises Esslingen liegt. Im Kreis Göppingen aber, wo der Hauptstrang verläuft, gibt es heute rund zehn Prozent weniger sozialversicherungspflichtig Beschäftigte als noch vor fünfzehn Jahren. Von den 1,1 Millionen Arbeitnehmern in der Region Stuttgart insgesamt gehen nur rund 80 000 einem Job zwischen Geislingen und Ebersbach nach: Ausweis einer gewissen Strukturschwäche in der überaus idyllischen Gegend am Fuße der Schwäbischen Alb.

Eine Erfolgsstory der besonderen Art

Da ist es gut zu wissen, dass sich etwas tut im Kreis Göppingen – der vor allem beim produzierenden Gewerbe seine Stärken hat. Jeder zweite Arbeitsplatz findet sich in diesem Bereich, beispielsweise bei Firmen wie der Allgaier-Group in Uhingen. Autotanks und Kotflügel werden dort produziert und Bleche geformt. Und seit 1975, seit der frühere Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt als erster familienfremder Manager die Geschäfte führt, laufen diese wieder – ähnlich wie bei der 1925 aus der Taufe gehobenen Firma Starmix/Electrostar. Das Unternehmen, das in den 1960er Jahren berühmt für seine Händetrockner und eine Kult-Küchenmaschine war, dann aber in eine Abwärtsspirale geriet, wurde von dem jungen Russen Roman Gorovoy gerettet: eine Erfolgsstory der besonderen Art.

Doch nicht nur, dass zahlreiche Traditionsunternehmen wieder in die Spur gefunden haben: es entstehen nach wie vor aus kleinen Anfängen neue inhabergeführte Betriebe. Beispiele sind Firmen wie Kolberg Percussion in Ebersbach und Schlagwerk Percussion in Gingen, die mit Musikinstrumenten plus Zubehör erfolgreich sind – oder die topometric GmbH.

Andreas Tietz, der bei topometric zusammen mit seinem Kompagnon Matthias Krebs als geschäftsführender Gesellschafter wirkt, führt stolz durch sein Unternehmen. In Uhingen haben die Newcomer, die mit Vermessungen aller Art eine interessante Nische besetzt haben, Anfang der 2000er angefangen. 2008 sind sie dann in einen eigenen Neubau im Gewerbegebiet von Göppingen-Jebenhausen umgezogen, der inzwischen schon zwei Mal erweitert wurde. In großen Hallen sind Messroboter aufgebaut, die sich wie von Geisterhand bewegt an den zu vermessenden Gegenständen entlangtasten.

Inzwischen beschäftigt topometric mehr als 60 Mitarbeiter, die – extern, aber immer häufiger intern – für Autohersteller unter anderem Getriebeteile vermessen und prüfen, damit Fehler nicht erst nach dem Einbau entdeckt werden. Aufträge kommen aber auch aus der Luft- und Raumfahrtindustrie, wo etwa Türen zwischen Fracht- und Passagierraum passgenau sitzen und die Maße für alle Fälle akribisch dokumentiert werden müssen. Manchmal wird Tietz schwummrig angesichts der rasanten Entwicklung – „doch unser Bauchgefühl hat uns bisher immer recht gegeben“, sagt er.

So gesehen: wieder rosigere Aussichten im Industrierevier Filstal.

Die Route der Industriekultur

Ansatz
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Der Verband Region Stuttgart hat 2013 zusammen mit 16 Gemeinden im Filstal das Projekt einer „Route der Industriekultur“ aus der Taufe gehoben. Diese ist eingebunden in den Landschaftspark Filstal und soll die industrielle Vergangenheit und Gegenwart entlang des Flusses ins Bewusstsein rücken.  

Umsetzung:

Eingeweiht wird die Route Mitte Juni – und bietet sich dann auch als ein lohnendes Ausflugsziel an. Entlang des bestehenden Filstalradweges werden im Moment 18 Ankerpunkte eingerichtet und ausgeschildert. Es handelt sich dabei um besonders bedeutsame Orte der Industriekultur, an denen Führungen, Ausstellungen und Werksverkäufe geboten werden, häufig ergänzt durch gastronomische Angebote. Ausführliche Informationen über das Projekt finden sich auch im Internet unter www.industriekultur-filstal.de.