Halten wir uns also an die Fakten: Herrndorf bringt eine Fülle von Personen miteinander ins Geschäft und ins Spiel, von denen keiner genau begreift, was er da tut. Neben „Carl“, wie der Gedächtnislose hilfsweise getauft wird, treten die Kosmetikvertreterin Helen auf, ihre esoterische Freundin Michelle, Michelles Guru, ein arabischer Amokläufer namens Amadou Amadou, die Polizisten Canisades und Polidorio, ein durchgeknallter Ex-Bergmann namens Hakim III, eine namenlose Prostituierte, ein Mafiapate und seine Bodyguards, ein Agent namens Herrlichkoffer, ein Psychiater, der „Carl“ als Simulanten überführen will.

 

Der Leser ist auch orientierungslos

Je ungeheuerlicher das Geschehen, desto unterkühlter erzählt Herrndorf. Mag er seinen Helden auf dem elektrischen Stuhl noch so sehr peinigen, es wird allerhöchstens konstatiert: „Carl schwitzte vor Angst.“ Dass wenigstens der Autor die Übersicht behält, kann man auch nicht sagen, deshalb stolpert der Leser genauso trottelig wie die Personen durch die Handlung. Das soll und muss so sein. Der Autor ist nicht jener grausame Gott, von dem es in Büchners „Danton“ heißt, er weide sich an den Zuckungen seiner Geschöpfe. Eher schaut er verwundert zu, was ihnen da alles widerfährt.

„Absurd“ war einmal, während der existenzialistischen Epoche, ein ästhetisch-philosophisches Schlüsselwort. Wolfgang Herrndorf ist vielleicht so etwas wie ein wiedergeborener Vertreter des Absurden als Weltanschauung. Nur ist er viel zu diskret, sie wie ein Werbesandwich vor sich herzutragen. Er versteckt sie in einem Mix der Genres und Töne, färbt sie mit Reminiszenzen aller möglichen Populär- und Trivialmythen ein. Dahinter steckt aber eine tiefe Traurigkeit, und das ist keine naseweise Kritiker-Spekulation, sondern bezeugt von Herrndorfs Blog, wo er von der „unbegreiflichen Nichtigkeit menschlicher Existenz“ schreibt: „In einem Moment belebte Materie, im nächsten dasselbe, ohne Adjektiv.“ Geschrieben von einem, der selbst seit Monaten dem Tod ins Auge schaut. Das trägt zur Verunsicherung und Unbehaglichkeit des Lesers nicht wenig bei. Und der Überzeugung, hier etwas ganz Besonderes in Händen zu halten.

Wolfgang Herrndorf: Sand. Roman. Rowohlt, Berlin 2011. 480 S., 19,95 Euro