Sonne, Berg, Ozean: Naturphänomene durchziehen die Ausstellung „Ein Loch im Meer“ des Württembergischen Kunstvereins in Stuttgart. Feriensehnsucht weckt sie gleichwohl nicht.

Stuttgart - Wer Land vermisst und kartografiert, verschafft sich Vorteile. Zeichnend eignet er sich fremde Gebiete an, übernimmt die Kontrolle über Grenzen und setzt sich in den Mittelpunkt der so erfassten Welt. Von diesem Gedanken ausgehend, den die Kuratoren etwa bei Gilles Deleuze und Félix Guattari gefunden haben, befragt die am Freitag eröffnete Ausstellung des Württembergischen Kunstvereins „Ein Loch im Meer“ künstlerische Abbilder von schwer zugänglichen Sphären. Auf den im Vierecksaal des Kunstgebäudes versammelten Videos, Diaprojektionen, Fotografien, Zeichnungen und Installationen von vorwiegend zeitgenössischen Künstlern wird überprüft, inwieweit sich Sonne, Bergwipfel und Ozeane vereinnahmen lassen.

 

Der paradoxe Titel der Ausstellung geht auf das 1969 aufgenommene Video „A Hole in the Sea“ zurück, das die Landart-Aktion des britischen Konzeptkünstlers Barry Flanagan öffentlich sichtbar machte. Dieser hatte einen Plexiglaszylinder im Watt platziert, den das ansteigende Wasser bald umfloss. Aus der Vogelperspektive gibt die Kamera für einige Momente das Bild eines Lochs im Meer wieder. Sinnigerweise zeigen die Ausstellungsmacher Hans D. Christ und Iris Dressler den Film in der Ausstellung auf einem Fernsehgerät und schneiden mit diesem Guckkasten ihrerseits ein Loch in die Präsentation. Auch die begehbaren, schwarzen Boxen zwischen den weißen Trennwänden können als lauernde Abgründe gelesen werden.

Die von einem Außen geformte Leerstelle, der blinde Fleck in der Wahrnehmung, die Lücke im Himmel: Wie ein roter Faden kehrt das Loch-Motiv wieder, mal im übertragenen Sinn, mal ganz konkret. So nimmt etwa Annalisa Cannitos vergoldeter Rettungsring aus Beton die Loch-Form auf. Die Italienerin, die mit ihrem Werk die koloniale und faschistische Vergangenheit ihres Landes befragt, hat diesen gemeingefährlichen Rettungsring wie einen Orden an die Rauminstallation zu ihrer Videocollage „Contesting Europe Coporate Hypocrisy #2“ geheftet. „Gegen die europäische geschäftsmäßige Heuchelei“ – so der deutsche Titel – führt sie ein historisches Notizbuch ins Feld, welches belegt, dass die Marineoperation zur Seenotrettung der Mittelmeer-Flüchtlinge mit „Mare Nostrum“ einen Namen erhielt, den schon Mussolini gebraucht hatte. Damit untermauerte er seinen Anspruch auf alle Küstenstreifen rund ums Mittelmeer.

Das ewig sich wandelnde Meer

Unter der abgedunkelten Decke des Vierecksaals sind auch Untiefen auszumachen, die sich geschlossen präsentieren – und damit trügerisch harmlos. So zeigt die 2004 entstandene Fotoserie „Ship Cancellation“ von Sven Johne nichts als das sich ewig wandelnde Meer. Jedes Foto ist überschrieben mit einem Zeugenbericht zu verbürgten, mutmaßlich auch erfundenen Schiffsuntergängen. Johne spielt mit dem Betrachterreflex, die Momentaufnahme illustrativ zum lesbaren Text zu verstehen.

Einen radikal persönlichen Zugang zum öffentlichen Raum eröffnet die großformatige Zeichnung „Schillerpromenade“ von Pia Linz. Die in Berlin ansässige Künstlerin dokumentiert anhand einer Schrittskala und mit handschriftlichen Notizen ihre optischen und akustischen Eindrücke beim Durchmessen ihrer unmittelbaren Umgebung. Aus einiger Entfernung betrachtet, verdichten sich die Bleistiftmaße, akribischen Gebäudeaufrisse und Baumskizzen zu einer ornamentalen Wolke mit schnurgeradem Regenguss. Erst in der Nahsicht ist das graue Liniengespinst zu entziffern: als eigenwillige Kartografie der Neuköllner Schillerpromenade mit Genezarethkirche auf ovalem Platz.

Wie der Hudson-River zu seinem Namen kam

Neben den fast theatralisch anmutenden Unterwasser-Filmen des Meeresbiologen Jean Painlevé gehört Linz’ Arbeit mit ihrer subtilen Ironie zu den sinnlich-poetischen Beiträgen der Ausstellung, zumal sie sich rein visuell erschließt. Umfassende Erklärungen braucht weit eher Matthew Buckinghams Film „Huhheakantuck. Everything Has a Name“ über die Namensgebung des amerikanischen Hudson-Rivers.

Selbsterklärend ist wiederum Cristian Rusus schneeweißes Modell „The Alpine Project“. Darin stellt der rumänische Künstler einen gekappten Berggipfel in eine heroische Architektur und macht das erhabene Stück Natur zum Götzen der Miniaturfiguren.

Auch wenn „Ein Loch im Meer“ viel Zeit, Neugier und Einlassungsbereitschaft von Seiten des Publikums verlangt, damit es die komplexen Bedeutungsebenen überhaupt erfassen kann – die Ausstellung stellt die tradierte (Historien-)Wahrnehmung in Frage und deckt die blinden (und blutigen) Flecken der eurozentrischen Weltsicht auf, die nicht zuletzt auf Landkarten zum Ausdruck kommt.

Dauer der Ausstellung: bis 21. August,

Di–So 11–18, Mi bis 20 Uhr.

Kuratorenführungen: 25. Mai, 15. Juni

und 5. Juli, jeweils um 19 Uhr

sowie am 21. August um 16.30 Uhr.