Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)
Mit welchem Gefühl sind Sie dann das erste Mal hierhergekommen?
Ulshöfer Ich kam mit einer fragenden Haltung. Das war tatsächlich auch das erste Mal, dass ich in einem Hospiz war.
Ist es schwer, hier zu arbeiten?
Daiker In der Tat ist es oft schwer. Aber es ist weniger die Begegnung mit Tod und Trauer, die anstrengend ist, als das, was sterbende und trauernde Menschen in uns an Resonanz wecken, an Ängsten, Kränkungen, Unversöhntem. Wir ringen ja selbst um ein geglücktes Leben. Das Hospiz ist eine anspruchsvolle Lebensschule.
Die meisten Menschen meiden solche Orte.
Ulshöfer Genau. Inzwischen bin ich froh darüber, dass ich so viel dazugelernt habe.
Was zum Beispiel?
Ulshöfer Erst einmal zulassen, dass es die Beziehung zwischen Leben und Tod gibt. Bei meinem ersten Besuch im Hospiz kurz vor Weihnachten habe ich mit den Gästen Weihnachtslieder gesungen. Wir haben zusammen Kaffee getrunken und Schokoladenkuchen gegessen, über die Texte der Lieder gesprochen und viel gelacht. Ich bin durch ein Wechselbad der Gefühle gegangen, weil ich zum ersten Mal in einer ganzen Runde von Menschen saß, die alle wussten, dass sie am Ende ihres Lebens sind. Was für eine Erfahrung! Wie werden sie nur damit fertig? Warten sie in Gedanken darauf, dass der Tod kommt? Und dann habe ich verstanden, dass sie ganz ruhig und mitten in der Gegenwart sind. Das hat viel mit dem Schutzraum Hospiz zu tun. Hier herrscht eine kontemplative Aufmerksamkeit, ein geduldiger Blick auf jeden Moment, in dem etwas geschieht oder etwas gesagt wird, das Beachtung verdient.
Daiker Das ist ja auch unsere Haltung: Wir sehen die Menschen nicht als Sterbende. Sie sind hier, um ihre letzte Lebensphase zu leben. Sie sind meistens noch voller Hoffnung. Das Leben geht bis zum letzten Atemzug. Oft kommen Menschen mit einer kurzen Prognose. Und dann geschehen kleine und große Wunder. Sie beginnen, sich wieder am Essen zu freuen, und nach ein paar Wochen fangen manche an, sich im Internet neue Kleider zu bestellen . . .
Ulshöfer . . . oder wollen eine Dauerwelle oder roten Nagellack. Das Leben geht bis zum letzten Atemzug hier. Wenn ich erzähle, ich engagiere mich in der Hospizarbeit, bekomme ich Mitleidsbekundungen. Es gibt immer noch viele Vorurteile.
Die Verdrängung ist offenbar groß.
Ulshöfer Sie ist gigantisch.
Daiker Ich finde, durch die Hospizbewegung hat sich auch beim Thema Verdrängung etwas verändert. Unsere Ehrenamtlichen sind Botschafterinnen für das Wissen, dass wir lebendig werden durch die bewusste Auseinandersetzung mit dem Tod. Die Öffnung für die am Hospiz Interessierten war mir all die Jahre sehr wichtig.
Warum schieben wir den Tod gerne weg?
Ulshöfer Ich beobachte, dass eine leistungsstarke, wohlhabende Gesellschaft vielleicht noch mehr dazu neigt, ein Thema wie den Tod zu verdrängen. Dominierend sind dann eher Power und Leistung und Erfolg. Es gilt: Wir sind die Macherinnen und Macher! Gedanken ans Sterben werden da ausgeklammert. Da gibt es tatsächlich die Gefahr hyperaktiver Verdrängung.
Was verpasst man dann?
Ulshöfer Man verpasst vielleicht, genügend darüber nachzudenken, was das eigene Leben ausmachen soll. Wenn man den Gedanken zugelassen hat, dass das Leben endlich ist, bekommt man eine Idee davon, die Lebenszeit mit Sinn und Verstand zu verbringen. Dann kann man sich mit Energie und Freude auf das Leben konzentrieren. Wenn ich alle diese Gedanken verdränge: Wie soll ich dann den einzelnen Moment schätzen? Wie kann ich dann einen glücklichen Augenblick genießen?
Daiker Die Gegenerfahrung dazu ist, dass manche Paare die Zeit des Sterbens als besonders intensiv erleben. Da ist Status plötzlich unwichtig. Die Frage, welche Therapie als nächste ansteht, hat man hinter sich gelassen. Das Tempo verlangsamt sich. Dann ist Zeit, über die wesentlichen Dinge zu sprechen. Menschen schauen wertschätzend auf alles, was das Leben kostbar macht. Das erfahren auch die Ehrenamtlichen im Hospiz. Ihr eigenes Leben bekommt eine neue Qualität. Und sie sagen, dass ihnen mehr geschenkt wird, als sie geben.
Ulshöfer Sich Zeit zu lassen ist das, was vielen im Leben am meisten fehlt. Am Schluss ist es schlicht Notwendigkeit. Ich denke, wir haben die Aufgabe, unser Leben so zu gestalten, dass es ein erfülltes Leben ist. Das ist der Impuls: Du hast das Leben nur ein Mal. Nimm es ernst, genieß es, aber erfülle es auch mit dem, was dir wichtig ist.