In seiner Kindheit ist der StZ-Redakteur Martin Tschepe im Liegewagen von Stuttgart nach Sylt gefahren. Gut 40 Jahre später wiederholt er diese Reise.

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)

Stuttgart - Kurz nach Mitternacht leuchten auf dem Hauptbahnhof in Karlsruhe die Neonlichter in der rabenschwarzen Nacht. Kaum eine Menschenseele ist mehr unterwegs an diesem Werktag. Die Stadt schläft, nur wenige Gestalten halten sich noch wach. Ein Dutzend Männer und Frauen sowie ein Kleinkind sitzen auf dem Bahnsteig Nummer drei und warten hundemüde auf den CNL 478 aus Zürich, der um 0.29 Uhr gen Norden weiterfahren soll. CNL steht für City Night Liner, eine aussterbende Zugart. Früher sind viele Nachtzüge gefahren, in den vergangenen Jahren hat die Bahn das Angebot jedoch arg ausgedünnt. Erst kürzlich wurde der Nachtzug nach Paris gestrichen. Nachtzüge, so die Deutsche Bahn, seien nicht rentabel, sondern ein Minusgeschäft.

 

Ich warte auf einen der wenigen Nachtzüge, die im Land unterwegs sind. Aus Baden-Württemberg ist es derzeit noch möglich, mit einem CNL nach Hamburg, Berlin, Prag und Amsterdam zu fahren. Ich will mal wieder so reisen wie in meiner Kindheit, als meine Mutter mit meinem kleinen Bruder und mir im Liegewagen von Stuttgart nach Sylt gereist ist. Ich will ausprobieren, ob man auf diese Weise stressfrei aus der Region Stuttgart auf die Lieblingsinsel der Reichen, der Schönen und der Naturliebhaber (dazu zähle ich mich) kommt.

Bei meiner Reise in die Vergangenheit, gut 40 Jahre nach meinem ersten Sylt-Nachtzugtrip, sind meine Frau Mama und mein Bruderherz nicht dabei. Es gibt auch keine Direktverbindung von Stuttgart bis nach Westerland mehr – so die unerfreuliche Auskunft auf der Internetseite der Bahn. Was also tun? Die einzig Möglichkeit, mit einem Liegewagen von Baden-Württemberg zumindest bis nach Hamburg zu gelangen, führt zunächst mit einem ganz gewöhnlichen Bummelzug nach Karlsruhe. Und der hält gefühlt in jedem zweiten Kaff – beispielsweise in Sersheim, in Sachsenheim und in Illingen.

Ein Déjà-vu-Erlebnis

In Karlsruhe rollt der CNL 478 pünktlich im Bahnhof ein. Der Zug trägt einen imposanten Zusatznamen: Pegasus/Komet. Alle Achtung, man darf gespannt sein! Der freundliche Schaffner weist den Weg in Richtung Wagen 287 und zur Liege im Sechserabteil mit der Nummer 56. Er sagt, „Der Zug ist komplett voll“, und ergänzt, „das ist oft der Fall“. Dann verschwindet er auch schon wieder in seinem Kabuff.

Nach dem Öffnen der Türe zum abgedunkelten Abteil das Déjà-vu-Erlebnis: die Luft ist verdammt schlecht. Leise schnarchen die Fahrgäste, die vor Karlsruhe eingestiegen sind und längst pennen. Es muffelt ein bisschen nach Käsefüßen. Und es ist ziemlich warm. Genau so habe ich die nächtliche Bahnreise im Grundschulalter in Erinnerung. So wie früher muss der Fahrgast noch über eine Art Hühnerleiter zu seinem Nachtquartier hinaufsteigen. Aber wie dort hochkommen mit dem schweren Koffer plus dem Rucksack in diesem stockfinsteren Raum auf Rädern? Das Licht einschalten? Lieber nicht: die Schlafenden würden vermutlich wach und protestieren. Also taste ich mich ganz langsam voran, verstaue mein Gepäck mehr schlecht als recht irgendwo in der Ecke und lege mich dann hin.

Der Pegasus/Komet hat sich derweil wieder in Bewegung gesetzt. Allerdings längst nicht so lautlos wie das geflügelte Pferd aus der griechischen Mythologie und längst nicht so schnell wie ein schweifender Stern. Der Nachtzug rollt recht gemächlich seinem Ziel entgegen. Auf der Fahrt von Karlsruhe bis Hamburg werden rund acht Stunden vergehen – in meiner Kindheit benötigte der Zug auf dieser Strecke 90 Minuten weniger. Das Zähneputzen vergesse ich ausnahmsweise, in Jeans und T-Shirt liege ich auf meiner Pritsche, vom leisen Rattern begleitet, döse ich langsam weg.

Es rumst und rappelt

Plötzlich öffnet jemand mit Karacho die Tür des Abteils, knipst erbarmungslos das Licht an und ruft: „Noch jemand zugestiegen? Die Fahrkarte bitte!“ Der Zugbegleiter sagt, er behalte das Ticket bis zum nächsten Morgen, er müsse die Fahrkarten aller Reisenden nämlich „auswerten“. Aber keine Angst, erklärt er nonchalant und grinst, „ich bin die ganze Nacht da, ich fahre bis nach Hamburg mit“. Das wollen wir auch hoffen.

Die Luft im mit sechs Personen besetzten Abteil wird im Laufe der Nacht nicht besser. Ich gewöhne mich tatsächlich daran und auch an das leise, regelmäßige Atmen der Mitreisenden. Gegen halb zwei wird der Zug in Mannheim geteilt – das kostet zusätzlich Zeit, aber anders würde sich das Nachtzuggeschäft wohl nicht mehr rentieren. Es rumst und rappelt. Manche Wagen rollen nun weiter nach Amsterdam. Hoffentlich liege ich im Hamburg-Zugteil. Amsterdam ist zwar auch eine schöne Stadt, aber ich will ja weiter nach Sylt.

Immer wieder werden die Reisenden von einem schrillen Sausen aus ihrem unruhigen Halbschlaf geweckt, verursacht von entgegenkommenden Zügen. Nach ein paar Stunden kommt der Kontrolleur wieder herein. Er ruft: „Hannover!“ Es ist sechs Uhr, zwei Mitreisende packen ihre Sachen und verlassen das Abteil.

Wunsch und Realität

Meine Nacht ist zu Ende. Ich habe gar nicht so übel geschlafen. Das Reisen im Liegewagen ist allemal angenehmer als eine Autofahrt. Auf meinem Rückweg von Sylt vor ein paar Monaten stand ich mit meinem VW Golf allein vier Stunden in Westerland, bevor ich auf den Autozug kam, der mich auf das Festland brachte. Und auf der A 7 vor Hamburg war auch die Hölle los.

Draußen auf dem Gang des CNL 478 sieht mir ein Mitreisender offenbar an, wonach es mich jetzt dürstet: „Kaffee gibt es im nächsten Wagen.“ Der Fremde will reden – über den Nachtzug im Allgemeinen und über die letzte Nacht im Speziellen. Einer in seinem Abteil habe geschnarcht und gehustet, „als ob er an Tuberkulose erkrankt ist“. Der Komet sei nicht mehr zeitgemäß ausgestattet, die Nasszelle zu klein. Und die uniformierte Dame, die nebenan den Kaffee verkaufe, sei wortkarg und unfreundlich. „Höchste Zeit, dass die Bahn etwas unternimmt“, meint der Fremde.

Ich rufe den verkehrspolitischen Sprecher der baden-württembergischen Grünen-Landtagsfraktion an. Wolfgang Raufelder sagt, das nächtliche Reisen im Zug sei eigentlich „eine sehr angenehme und bequeme Alternative“. Ökologisch sinnvoll, deutlich weniger umweltschädlich als das Fliegen. Eine Studie habe ergeben, dass Nachtzüge ein großes Potenzial hätten. Raufelder mailt mir die Expertise: Demnach wurden in den vergangenen zehn Jahren Verbindungen von Deutschland in sieben Länder gestrichen. Die Bahn hat nur noch gut 200 Schlaf- und Liegewagen im Bestand, 1999 waren es noch dreimal so viele. Zudem sind die Wagen oft veraltet, und der Service ist verbesserungswürdig. Doch nur, wenn sich die Rahmenbedingungen änderten, beispielsweise die Steuerbefreiung für Flugbenzin abgeschafft werde, sei es möglich, mehr Nachtzüge auf die Schiene zu bringen, ohne Verluste einzufahren.

Gespräche im Gang

Die Realität sieht so aus: Billigflieger sind schneller und kosten oft weniger als der Zug. Fernbusse sind zumindest billiger. Nachtzüge sind besonders personalintensiv: Auf einen Schaffner kommen maximal 35 Passagiere pro Waggon, tagsüber passen 60 Reisende in einen ICE-Waggon, der keinen eigenen Schaffner braucht.

Nächster Anruf. Die Stuttgarter Bahn-Sprecherin Sabrina Nebauer berichtet: „Die Nachtreiseverkehre sind seit Jahren nachhaltig defizitär, ohne dass sich eine Verbesserung abzeichnen würde.“ Die Nachfrage sei in den vergangenen zehn Jahren stark zurückgegangen. Die Bahn feile aber an einem „wirtschaftlich betreibbaren Nachtnetz“, an einem aus Kundensicht „attraktiven und stimmigen Projekt“.

Im CNL 478 nach Hamburg krabbeln nach Sonnenaufgang immer mehr Fahrgäste aus ihren Kabinen. Bald stehen fast alle Reisenden in dem schmalen Gang herum – wo sollten sie auch sonst hin? Ein Teenager beißt müde in ein belegtes Brötchen. Wer mehr Komfort als in einem Liegewagen haben will, muss mehr Geld ausgeben und ein geräumigeres Abteil in einem Schlafwagen buchen.

Der nächtliche Nostalgietrip endet

Neben mir steht Sabine Pfaller. Sie ist Deutsche, wohnt und arbeitet aber seit vielen Jahren in der Schweiz. Sie erzählt, dass sie alle paar Monate mit einem Nachtzug von Zürich nach Hamburg oder Berlin fahre. Wenn möglich, reserviere sie sich einen Liegeplatz in einem Frauenabteil. Sich das Hotel sparen, morgens mitten in einer Großstadt ankommen und dann gleich shoppen gehen – „das ist doch toll“.

Mein nächtlicher Nostalgietrip endet um 8.40 Uhr am Hamburger Hauptbahnhof. Von dort aus geht die Reise mit einem gewöhnlichen Bummelzug nach Sylt weiter. Unterm Strich war ich gut 14 Stunden unterwegs, um umweltverträglich von Stuttgart nach Westerland zu kommen. Das ist zwar keine rekordverdächtige Zeit, aber interessanter und stressfreier, als einen halben Tag über die Autobahn zu brettern, ist diese Art der Fortbewegung allemal.