Ein Kremlbürokrat fordert die Wiedereinführung der Zensur, und eine Inszenierung wird abgesetzt. Oppositionelle warnen vor einer Rückkehr ins Zarenreich.

Stuttgart - Niemand, so der Pressesprecher von Wladimir Putin, denke an die Wiedereinführung der Zensur. Das sei für Kunst und Kultur einfach „nicht akzeptabel “. Wohl aber habe der Staat beim Kino wie dem Theater „Anspruch auf korrekte Aufführungen, die keine hitzigen Reaktionen der Öffentlichkeit hervorrufen“. Zu diesem Behufe hatte kurz zuvor Magomedsalam Magomedow, einer der Vizechefs der Kremladministration, gefordert, eine Expertenkommission müsse – zumindest in staatlichen Theatern und bei staatlich geförderten Filmen – Einfluss auf Spielplan oder Drehbuch und auf die Regie nehmen. Nur so könnten künftig Skandale wie der in Nowosibirsk vermieden werden.

 

Dort hatte im Dezember Wagners „Tannhäuser“ Premier. Der Jungregisseur Timofei Kuljabin verlegte die Handlung aus dem Mittelalter in die Gegenwart und lässt einen Filmemacher namens Heinrich Tannhäuser einen Streifen über den jungen Jesus Christus drehen. „Venusgrotte“ heißt das Opus, in dem Jesus mit halbnackten Frauen der Fleischeslust huldigt. Die ersten Kritiken waren eher freundlich: die Inszenierung sei ein Ereignis für die russische Opernwelt. Diese fremdelte bisher mit Wagner im Allgemeinen und mit „Tannhäuser“ im Besonderen. Ganze vier Inszenierungen gab es in den letzten siebzig Jahren. Landesweit.

Der Metropolit wettert, die Menge zollt ihm Beifall

Ende Februar kippte die Stimmung. Mehrere Hundert orthodoxe Christen forderten bei einer Protestkundgebung vor dem Opern- und Balletttheater in Novosibirsk die Absetzung der Oper sowie den Rücktritt des Intendanten Boris Mesdritsch und des Kulturministers der Region. Auch gehöre der Regisseur Kuljabin vor den Kadi gezerrt. Er, so der Metropolit, wie die Erzbischöfe der Ostkirche heißen, sehe durch die Inszenierung die Gefühle der Gläubigen ähnlich besudelt, wie die der Muslime durch das Pariser Satiremagazin „Charlie Hebdo“. Die Menge spendete tosenden Beifall. Zwar weigerte der Theaterleiter Boris Mesdritsch sich tapfer, die Aufführung aus dem Spielplan zu nehmen: Sie sei durch das Recht auf Freiheit der Kunst gedeckt. Am Montag erhielt er jedoch von Kultusminister Wladimir Medinski die Entlassungsurkunde. Offizieller Grund für den Rauswurf ist demzufolge Insubordination – Nichtunterwerfung unter Weisungen des Ministeriums. Von „Tannhäuser“ kein Wort. Der bereits angereiste neue Theaterchef Wladimir Kechman will das Repertoire kritisch unter die Lupe nehmen und ging bereits in die Vorleistungen. Schon am Tag nach seiner Bestallung nahm er den „Tannhäuser“ vom Spielplan. In vorauseilendem Gehorsam will ein weiteres Theater in Nowosibirsk im Stück „Der orthodoxe Igel“ jene Stellen streichen, die bei Orthodoxen Anstoß erregen könnten.

Viktor Scheinis, der zum Urgestein russischer Liberaler gehört und als einer der Väter der 1993 verabschiedeten Verfassung gilt, kritisierte die Forderungen der Kremlbürokratie nach mehr Kontrolle staatlicher kultureller Einrichtungen bei Radio Echo Moskwy. Es sei ein „Rückfall in die finstersten Zeiten kommunistischer Zensur“. Selbst im Zarenreich – alles andere als eine lupenreine Demokratie – hätten sich die Zensoren vermeintliche Bösewichte erst nach der vollendeter Tat – sprich Premiere – vorgeknöpft und nicht wie jetzt geplant bereits auf der Basis bloßer Vermutungen. Anders als heute seien die zaristischen Kulturbürokraten auch sehr belesen und gebildet gewesen. Sie hätten ihre Urteile daher stets fundiert begründet und sich eher selten vom persönlichen Geschmack hinreißen lassen.

Deutlicher hat sich bisher niemand den ungeliebten Kulturminister zur Brust genommen. Nach dem Rauswurf des Theatermanns Mesdritsch forderte sogar der sonst eher angepasste Verband der Filmschaffenden den Rücktritt des Kulturministers. Folgen sind nicht zu erwarten.