Nachrichtenzentrale: Tim Höhn (tim)
Allein die Stuttgarter Staatsanwaltschaft ermittelt derzeit gegen sechs KZ-Wächter. Drei davon kamen zunächst in Untersuchungshaft, wurden aber, teils wegen gesundheitlicher Probleme, wieder auf freien Fuß gesetzt. Ärgert Sie das?
Ich kann mir keine Emotionen leisten, sonst arbeite ich schlecht. Wenn das Gericht der Auffassung ist, dass keine Voraussetzungen für einen Haftbefehl vorliegen, müssen wir das  respektieren. Das Gesetz muss für alle gelten, auch für mutmaßliche Naziverbrecher.
Können Sie verstehen, dass Opfer des Regimes manche juristische Entscheidung der vergangenen Jahrzehnte nur schwer nachvollziehen können?
Natürlich kann ich das. Opfer können und dürfen sich Emotionen leisten.
Sie waren mehrfach in Auschwitz, um sich ein Bild zu machen. Was hat dieser Ort in Ihnen ausgelöst?
Wenn man die Baracken und Vergasungsanlagen sieht und sich vorstellt, was dort passiert ist, geht das nicht spurlos an einem vorüber. Aber das muss man innerlich verarbeiten. Ich darf solche Gefühle nicht gegenüber einem Täter ausleben.
Sie waren als Oberstaatsanwalt in Stuttgart maßgeblich am Verfahren gegen Josef Schwammberger beteiligt, der 1992 wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Der Kommandant mehrerer Zwangsarbeiterlager galt sogar für SS-Verhältnisse als besonders grausam.
Ich habe ihn sechs Tage verhört. Nach dem ersten Tag meinte meine Schreibkraft, sie könne sich nicht vorstellen, dass der ein Massenmörder sei. Nach dem sechsten Tag sagte sie, dass sie froh sei, diesem Mann hier begegnet zu sein und nie woanders.
Was war geschehen?
Schwammberger konnte sich verstellen, aber als die Befragung immer tiefer ging, hat er die Contenance verloren und sein wahres Gesicht gezeigt. Mit seinem Jähzorn, seiner Gefühllosigkeit. Irgendwann spürt man: dem ist egal, was er gemacht hat. Er würde es genau so wieder machen.
Hat Ihnen gegenüber je ein Naziverbrecher Reue gezeigt.
Nein. Nie.
Hätten Sie sich das gewünscht?
Ja, ich hätte mir Reue gewünscht.
Wie leben die Täter mit der Schuld?
Schwammberger blieb bis zu seinem letzten Atemzug dabei, er habe nichts Schlimmes getan, und er konnte gut damit leben. Ich kenne nur einen, der sich überhaupt direkt zu seinen Taten geäußert hat, und das war Alfons Götzfried.
Götzfried, ehemals SS-Unterscharführer, hat in seiner Vernehmung 1997 zugegeben, im Konzentrationslager Majdanek 500 Juden erschossen zu haben.
Und er konnte nicht begreifen, dass er dafür angeklagt worden war. Er sei nur Befehlsempfänger gewesen, und als Soldat habe er nicht nachzudenken, sondern Befehlen zu folgen, so seine Sicht. Manche Täter haben ihre Taten wohl so lange verdrängt, dass sie selbst überzeugt waren, nichts getan zu haben. Ich habe oft den Satz gehört: Sie können das gar nicht beurteilen, denn Sie waren nicht dabei.
Die Zentralstelle hat auch lange gegen Hans Lipschis ermittelt, hält diesen für einen ehemaligen KZ-Aufseher. Doch das zuständige Gericht lehnte kürzlich die Aufnahme eines Hauptverfahrens ab, weil der 94-Jährige dement ist. Zuvor hatte Lipschis behauptet, er sei in Auschwitz lediglich Koch gewesen.
Auch ein Koch kann helfen, dass ein Lager funktioniert. Hätte er nicht gekocht, hätte die SS nach Hause gehen müssen. Wäre die SS nach Hause gegangen, hätte es die Morde nicht gegeben. Dass ein Koch anders zu bestrafen wäre als derjenige, der das Gas eingefüllt hat, ist selbstverständlich.