Im Zirkus Bonanza arbeiten gegen jeden Trend drei Generationen als Großfamilie Hand in Hand. Jetzt feiert der Patron Bernhard Sperlich großes Jubiläum auf dem Cannstatter Wasen.

Stuttgart - Die Manege erstrahlt in einem geheimnisvollen blauen Licht, die Bässe wummern drohend, das Publikum sieht schemenhaft durch den Trockeneisnebel, wie ein Monstrum aus Stahl langsam unter die Zirkuskuppel gezogen wird. Das ist der Moment, in dem Bernhard Sperlich regelmäßig das Zelt verlässt. „Ich kann das nicht sehen“, sagt er, „beim Todesrad, da muss ich raus.“

 

75 Jahre alt ist der Gründer des Stuttgarter Zirkus Bonanza, seit seinem dritten Lebensjahr arbeitet er als Artist. Er hat den Job mit der Muttermilch aufgesaugt, stand schon als Knirps mit seinem Onkel als Spaßmacher in der Manege. Und noch heute lässt er zweimal am Tag als Clown August die Kinder jauchzen. Er kennt natürlich auch die weniger lustigen Seiten. Sperlich hat in seinem Zirkusleben vieles gelernt, gemacht, gesehen.

Als Zwölfjähriger ist er aus acht Metern kopfüber aus der Kuppel gestürzt. Es ging mit Prellungen ab, aber vielleicht mag er deshalb nicht zuschauen, wenn Maik und Siegfried als Höhepunkt des Programms waghalsige Akrobatik zeigen. Bernhard Sperlich steht hinter dem roten Bühnenvorhang und schaut zu den Kamelen und Rindern, die in ihren Gehegen auf das Finale der Vorstellung warten. Seine rote Pappnase leuchtet lustig, aber die nächsten Minuten hat der Clown August Pause. Wer da steht, ist Opa Bernhard, der einfach hofft, dass seine Enkel nicht zu sehr mit dem Risiko spielen.

Alles gutgegangen, wieder mal, zum Glück

Im Zelt laufen derweil die Artisten in zwölf Metern Höhe mit Kapuzen über dem Kopf ohne Sicherung blind über eine Art Hamsterrad. Außen wohlgemerkt, und das Rad ist zu allem Überfluss auch noch am Ende einer Achse montiert, die sich dreht – schnell dreht. Die beiden bewegen sich geschmeidig wie Katzen, aber man spürt: das ist ein ganz heißer Tanz.

Die Nummer ist der Höhepunkt der Vorstellung, und wenn der Senior hinter dem Vorhang den Applaus hört, die Musik weniger dramatisch wird und alle zum Finale noch mal in die Manege gerufen werden, ist er wieder der kultige Clown, der Kindern über den Kopf streicht und den charmanten Dussel gibt. Alles gutgegangen, wieder mal, zum Glück. Auch Rosa Sperlich, die Oma, entspannt sich im Getränkestand im Vorzelt. „Der Siegfried will es immer wissen“, sagt sie und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel, „aber es sind gute, ehrgeizige Jungs.“ Anderthalb Stunden ist jetzt Ruhe, dann beginnt die Abendvorstellung – und das ganze Spiel von vorn.

Die Ruhe vor der Show

Vormittags herrscht Nervenruhe auf dem Cannstatter Wasen. Hier hat der Circus Bonanza aufgebaut, eine Stuttgarter Institution. Zum 40-Jahr-Jubiläum gibt es ein großes Programm im 1400 Besucher fassenden Zelt. Mit dabei: ein Starjongleur aus Prag und eine ungarische Reitertruppe, deren Mitglieder Salti auf dem Rücken galoppierender Pferde schlagen. Alle anderen Artisten im zweieinhalbstündigen Programm tragen denselben Nachnamen: Sperlich. „So eine Familie ist ein großes Glück“, sagt der Großvater Bernhard zur Begrüßung. Noch ist die Tür am Eingang zu, Mitarbeiter der Stadt scheuchen mit knatternden Laubbläsern den Herbst vom Parkplatz, Kamele liegen träge in ihren Gehegen und blinzeln in die Sonne, in der Manege wird eines der ungarischen Pferde bewegt. Ohne Musik, nur mit Notlicht. Es riecht nach Popcorn, Sägemehl, Tieren. Ein Duft, der einen an die eigene Kindheit erinnert. So war es, wenn der Zirkus kam. Es mag sich mit der Zeit viel geändert haben unter dem Zirkusdach, der Geruch nicht.

Für Bernhard Sperlich gehört das Ambiente zum Alltag. Und nicht nur für ihn. Neun Kinder im Alter zwischen 40 und 52 Jahren haben er und seine Frau Rosa, dazu 37 Enkel. Und bis auf eine Tochter mit ihren vier Kindern sind alle mit Leib und Seele beim Zirkus. Sein Sohn Stephan ist jetzt der Direktor, die Enkel sind Artisten. Und nicht nur das. Beim Zirkus macht jeder alles. Vormittags Kasse, vor der Vorstellung Zuschauer im Zelt einweisen, Getränke verkaufen, Tierführung in der Pause, dazu kommt bei den Jüngeren noch die Schule und natürlich das Training. „Man muss mit dem Herzen und mit Freude dabei sein“, sagt Rosa Sperlich, „und das sind sie alle.“ Bei Bonanza leben und arbeiten drei Generationen eng zusammen. Während sich im Land mehr und mehr klassische Familienstrukturen auflösen, funktioniert bei Bonanza das Modell Großfamilie offenkundig immer noch prächtig.

Der Wohnwagen des Gründers steht an der rechten Stirnseite des Areals. Auf dem Fenstersims hinter dem Esstisch hat er die gerahmten Familienfotos platziert, neun Kinder, aufgereiht wie die Orgelpfeifen, die Eltern davor. Ein Bild mit allen Enkeln würde wohl aussehen wie ein Klassenfoto. Die Familie funktioniert aber auch ohne den Fotobeweis. 40 Jahre Zirkus, 40 Jahre Teil der Stuttgarter Kulturszene und verwoben mit der Stadt. „Alle meine Kinder sind in Rohr in die Pestalozzischule gegangen“, sagt Bernhard Sperlich stolz und gegen das Klischee, dass sich Zirkusleute um solch regulativen Dinge wie die Schulpflicht wenig kümmern.

Der Zirkus-Clan Sperlich

Stuttgart war immer die Heimat, auch wenn man die meiste Zeit des Jahres unterwegs ist. Die Kleine Tierschau hat ihr erstes Konzert im Bonanzazelt gegeben. Die Kelly Family lebte eine Zeit lang in einem Wohnwagen auf dem Zirkusgelände. „Da waren die noch kaum bekannt“, erinnert sich Bernhard Sperlich, „man hat mir gesagt, dass die zwar lange, rote Haare hätten, aber in Ordnung seien.“ Die Fischer-Chöre haben schon im Zirkuszelt gesungen, Rezzo Schlauch, ein Freund des Hauses, hätte am Tag der OB-Wahl 1996 gegen Wolfgang Schuster bei Bonanza gefeiert – wenn er denn gewonnen hätte. Ja, und dann noch der Werner Schretzmeier vom Theaterhaus, auch ein Freund von Bonanza, sagt Sperlich. Als vor vielen Jahren das erste Theaterhaus in Wangen eröffnet wurde, wollte Schretzmeier, dass Sperlich als Clown am Eröffnungsabend mit einer Glücksgans unterm Arm aus der Straßenbahn vor dem Theater ausstieg. Die Fotografen standen parat, aber der Clown war nicht in der avisierten Bahn. „Ich habe mich aus Versehen in die falsche gesetzt“, sagt Sperlich lachend, „aber dann kam ich eine später, und es hat alles noch geklappt.“

Am Ende muss alles funktionieren – so lebt es sich auch im Zirkus. Mit ein bisschen Großfamilienromantik allein käme man da nicht mehr weit. Die Konkurrenz in dem Showgeschäft ist groß. Die Zeiten sind schneller geworden und die Ansprüche der Kunden gewachsen. Deshalb muss bei den Sperlichs auch ein Rädchen ins andere greifen, jeder am gleichen Strang ziehen. Keiner darf sich für irgendeine Arbeit in dem Zirkus zu schade sein.

„Mein Zirkusherz ist einfach zu groß, um es aufzugeben“, sagt die 23-jährige Monika Sperlich. Die Enkelin hatte schon eine eigene Seelöwen-Nummer und zeigt aktuell mit vielen Hula-Hoop-Reifen Dinge, die selbst talentierte Mädels auf der Straße nicht mal mit einem hinkriegen würden. Für sie war es nie eine Frage, was nach der Schule kommt. „Klar, man träumt davon, vielleicht Filmstar zu werden, natürlich ist es im Winter manchmal hart, wenn das Wasser einfriert, aber Zirkus ist großartig, und die fünf Minuten, die du in der Manege stehst, bist du der Star.“

Oma Rosa war früher die Kautschukfrau

Mit jemandem tauschen würde sie auf keinen Fall. Die Lust auf die Arbeit und der Respekt vor der Familie sind viel zu groß. Der Opa ist Monikas „Lieblingsclown“, und von Rosa Sperlich spricht sie voller Anerkennung: „Sie hat früher Kautschuk gemacht.“ Heißt übersetzt: die Großmutter war eine jener Artistinnen, die ihren Körper derart verbiegen können, dass man allein schon beim Zuschauen Rückenschmerzen spürt. Geschadet hat es ihr offensichtlich nicht. Rosa Sperlich steht kerzengerade hinter dem Getränkestand im Vorzelt und arbeitet mit. Jeden Tag. „Mit Freude“, sagt sie. Auch wenn das Zirkusleben nicht immer die reine Zuckerwatte ist. Von einer sicheren Zukunft ganz zu schweigen.

„Große Reserven bilden kann man nicht“, sagt der Senior, „wenn man Geld verdient, muss man investieren.“ In Technik, Autos, Reparaturen, Inszenierungen. Ein paar exotische Tiere und Artistik im Turnhallen-Ambiente reichen heute nicht mehr. Wenn etwa René Sperlich seine außergewöhnliche Handstand-Akrobatik in fünf Meter Höhe präsentiert, wird er von vier futuristisch-ägyptisch gekleideten Cousinen begleitet, er selbst thront auf einer Art Pyramide und zeigt seine Show zu einer aufwendigen Licht- und Musikinszenierung. Auch so was kostet richtig Geld.

Wie lange er noch den Clown geben kann – er weiß es nicht, und er macht sich auch keinen Kopf darum. „Rente krieg ich eh keine, glaube ich wenigstens“, sagt Bernhard Sperlich. Außerdem mache es ihm ja Spaß. Enkelin Monika nickt. Und muss gleich wieder los. Die Pause ist kurz, die nächste Show steht an, es gibt noch viel zu tun. Auch der Opa braucht wieder zehn Minuten, um sich in den lustigen August zu verwandeln. Er könnte es auch einfacher haben. Aber warum? Der Zirkus, das spürt man hier, das ist kein Job. Das ist das Leben.