Nach der Zugkatastrophe von Santiago de Compostela beginnt die Suche nach den Verantwortlichen. Die Polizei hat den Lokführer festgenommen. Dessen Kollegen beklagen die ungenügenden Sicherheitsstandards der Strecke.

Korrespondenten: Martin Dahms (mda)

Santiago de Compostela - Einigkeit herrscht nur in einem Punkt: der Zug, der am Mittwochabend kurz vor der Einfahrt in den Bahnhof von Santiago de Compostela entgleist ist und 78 Menschen in den Tod gerissen hatte, war mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs. Eine der Überlebenden, die 37-jährige Ana, die regelmäßig zwischen Madrid und Santiago unterwegs ist, erinnert sich an die letzten Meter vor dem Unglück, auf denen der Zug unterirdisch eine Autobahn passiert: „Er war noch nie so schnell aus dem Tunnel ausgefahren. Mein Waggon kippte um, und alles wurde zu einem Gewirr aus Eisen.“

 

Doch warum der Zug vom Typ Alvia 730 in die Katastrophe raste, darüber wird in Spanien noch heftig diskutiert. Ein Untersuchungsrichter in Santiago hat die juristischen Ermittlungen aufgenommen, zugleich versucht eine Untersuchungskommission für Zugunfälle, den Ursachen auf die Spur zu kommen. „Es ist sehr wichtig, dass die Angehörigen, die Opfer und die Bürger erfahren, was geschehen ist“, sagte die Verkehrsministerin Ana Pastor während ihres Besuchs in Santiago. Doch bis die Justiz und die Kommission ihre Arbeit abgeschlossen haben, werden Monate, vielleicht Jahre vergehen. Bis dahin müssen Indizien und unbestätigte Informationen ausreichen, um sich ein Bild vom Hergang des Unglücks zu machen.

Klar ist: der Lokführer bremste nicht – nur warum?

Nach allem, was bis jetzt bekannt ist, wird sich der Lokführer kaum seinem Teil der Verantwortung entziehen können. Er hätte den Zug laut der spanischen Eisenbahninfrastruktur-Behörde Adif vier Kilometer vor der Unglücksstelle abbremsen müssen und hat es offenbar nicht getan. Er überlebte das Unglück leicht verletzt und half anfangs bei den Rettungsarbeiten, bevor er ins Krankenhaus kam. Der erfahrene Eisenbahner wurde noch in der Klinik unter dem Vorwurf der Fahrlässigkeit festgenommen und soll als Beschuldigter vor dem Untersuchungsrichter aussagen.

Der 52-Jährige arbeitet seit drei Jahrzehnten für die staatliche spanische Eisenbahngesellschaft Renfe, seit zehn Jahren als Lokführer. Auf der Schnellbahnstrecke Richtung Santiago war er seit einem Jahr regelmäßig unterwegs, er wusste, dass er wenige Kilometer vor der Einfahrt in die Stadt von Tempo 230 auf Tempo 80 abbremsen musste. Warum er es nicht tat, dafür gibt es bis jetzt keine gute Erklärung.

Aufregung verursachen Medienberichte über Kommentare, die von der Facebook-Seite des Lokführers stammen sollen. Dort soll er im März vergangenen Jahres das Foto eines Tachos bei Tempo 200 veröffentlicht und dazu kommentiert haben: „Ich bin an der Grenze, schneller kann ich nicht fahren, wenn ich kein Bußgeld haben will.“ Eine scherzhafte Bemerkung, die dem Lokführer von einigen als unbesonnene Prahlerei ausgelegt wird. Inzwischen gibt es jedoch Zweifel, ob die Facebook-Seite überhaupt von ihm angelegt wurde. Das Profil ist seit Freitag gelöscht. Der Zeitung „El Mundo“ zufolge soll der Lokführer kurz nach dem Unglück gesagt haben: „Ich habe es vermasselt, ich möchte sterben.“

Die Gewerkschaft gibt dem Bahnnetzbetreiber eine Mitschuld

Moralischen Rückhalt bekommt er von seinen Kollegen. Der Vorsitzende der Lokführergewerkschaft Semaf, Juan Jesús García Frailes, ist davon überzeugt, dass das Unglück „verhindert worden wäre“, wenn es an der Strecke ein moderneres Sicherungssystem gegeben hätte. Zumindest ein Teil der Verantwortung ginge also auf das Konto des Schienennetzbetreibers Adif, der sich offiziell zu den Vorwürfen nicht äußert. An dem Streckenabschnitt kurz vor Santiago de Compostela ist das sogenannte ASFA-System installiert, die Abkürzung steht für Anzeige von Signalen und automatisches Bremsen. Nun wurde der Zug am Mittwoch aber gerade nicht automatisch gebremst, wofür es zwei mögliche Erklärungen gibt: Nach der einen greift das automatische Bremssystem erst bei Geschwindigkeiten über 200 Kilometer in der Stunde, während der Zug mit Tempo 190 unterwegs war. Nach der anderen Erklärung bremst der Zug nur dann automatisch, wenn der Lokführer nicht auf die Warnung vor überhöhter Geschwindigkeit reagiert. Möglicherweise hat er aber – etwa per Knopfdruck – auf die Warnung reagiert, dann aber nicht gebremst. Schließlich können auch technische Defekte nicht ausgeschlossen werden.

Auf großen Teilen des spanischen Schnellbahnnetzes gewährleistet das europäische Zugbeeinflussungssystem ERMTS Sicherheit; dieses hätte nach Überzeugung der Lokführergewerkschaft Semaf unter allen Umständen eine automatische Bremsung ausgelöst und die Katastrophe so verhindert. Doch der Netzbetreiber Adif war zumindest bis jetzt davon überzeugt, dass das ältere ASFA-System für die Streckenabschnitte in Bahnhofsnähe das angemessene sei – dort fahren die Züge schließlich langsamer. Die Erklärung klingt nach dem Unglück von Santiago nach bitterer Ironie.