Von oben betrachtet, sieht man erst, wie sehr sich Stuttgart und die umliegenden Gemeinden in den vergangenen 60 Jahren entwickelt haben. Für die nächsten sechs Jahrzehnte braucht es eine zupackende Planung auch über Gemeinde- und Kreisgrenzen hinweg, findet Jan Georg Plavec.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Zugegeben: die Rede vom ausufernden Flächenverbrauch in Boomregionen wie Stuttgart ist altbekannt. Neu ist die Eindrücklichkeit, mit der dieser Flächenfraß auf den Luftbildern zutage tritt, die wir in den kommenden Wochen und Monaten erstmals veröffentlichen. Wer die Ansichten derselben Orte von 1955 und heute nebeneinanderlegt, sieht auf den aktuellen Bildern zugestellte Baulücken, verbreiterte Straßen sowie ausgedehnte Wohngebiete, Gewerbe- und Industrieflächen, wo früher freies Feld war.

 

Diese Entwicklung war natürlich nicht rundheraus falsch. Die Luftbilder des Jahres 1955 zeigen einen Neuanfang und Hunger nach Moderne, Wachstum, Wohlstand. So gesehen ist es ungerecht, die Wirtschaftswunderjahre auf die nicht mehr zeitgemäße, damals jedoch positiv konnotierte Idee der „autogerechten Stadt“ zu reduzieren. Stuttgart war, auch das zeigen die alten Luftbilder, damals eine andere Stadt – die insbesondere an ihren Rändern noch deutlich mehr Raum zum Atmen hatte.

Nun ist es zunächst Ausweis einer stetig zunehmenden Attraktivität Stuttgarts, dass hier seit Jahrzehnten immer mehr Menschen leben und arbeiten wollen. Anderswo werden Wohnhäuser abgerissen, in der Landeshauptstadt suchen alle händeringend nach freien Flächen – und finden sie immer seltener auf Stuttgarter Gemarkung, sondern im Speckgürtel. Seit die Stuttgarter Stadtverwaltung 1955 erstmals ein mit einer Spezialkamera bestücktes Flugzeug losschickte, sind rund um Stuttgart ganze Ortschaften neu errichtet worden, wuchsen kleine Dörfer zu stattlichen Gemeinden heran. Einige von ihnen, man denke nur an die Filderebene, haben sich so gut entwickelt, dass sie nicht mehr wie früher durch Felder getrennt sind, sondern zusammenwachsen werden – und zwar nicht erst in weiteren 60 Jahren, zumindest wenn die Entwicklung anhält.

Die Regionalplanung muss wichtiger werden

Das hat ganz konkrete Folgen nicht nur für die Menschen, die dort leben und denen ihre einstmalige Dorf- oder Kleinstadtidylle abhandengekommen ist. Vor allem Stadt- und Regionalplaner müssen sich der neuen, über die Jahrzehnte gewachsenen Realität stellen. Es dürfte weniger die Frage sein, ob der Zuzug und damit der Bedarf an Fläche und Wohnraum in der Region Stuttgart zunehmen, sondern eher, wie man sinnvoll damit umgeht. Sinnvoll wäre in diesem Fall eine Raumplanung, die vor Kreis- und Gemeindegrenzen nicht Halt macht. Wenn zusammenwächst, was bisher formal nicht zusammengehört, müssen Bebauungspläne, Verkehr und öffentliche Nahversorgung ganz neu gedacht werden.

Mit dem Verband Region Stuttgart und der Regionalplanung existieren bereits der richtige Rahmen und ein taugliches Instrument für diese Zukunftsaufgabe. Solange aber die bislang vor allem auf die Bestellung der S-Bahn reduzierte Region vordringlich auf den Erhalt von Grünflächen achtet und die Gemeinden eine dichtere Bebauung, wie sie in Stuttgart üblich ist, nur zögerlich zulassen, ist keinem so recht geholfen – der Natur nicht und auch nicht den Menschen. Dass der Wohnungsmangel in Stuttgart so wenig im Verbund mit den umliegenden Gemeinden diskutiert, ist der sichtbarste Ausdruck dieses strukturellen Malaise.

Freiwilig wird keiner der 179 Bürgermeister und Oberbürgermeister in der Region auf seine Planungshoheit verzichten. Die Eigenheiten und der Stolz ihrer Gemeinden machen ja auch einen Reiz der Region aus. Doch man muss gar nicht so viel weiter als bis 1955 zurückblicken, um auf die Zeit der Eingemeindungen in den Dreißigerjahren zu stoßen. Heute wäre es kaum vorstellbar, Stuttgart ohne seine äußeren Bezirke zu denken. Und wer würde behaupten, dass einst eigenständige Gemeinden wie Feuerbach, Zuffenhausen oder Möhringen nicht davon profitiert hätten, Teil der Landeshauptstadt zu sein? Stuttgart muss stärker als bisher über die Stadtgrenze hinaus gedacht werden – wer unsere Luftbilder sieht, weiß, warum.