Anonymous-Anhänger zeigen Schwächen einer globalen, digitalen Gesellschaft auf. Und etablieren eine neue Protestkultur.

Stuttgart - In der letzten Szene von "Fight Club", David Finchers Verfilmung des Romans von Chuck Palahniuk, kann man dem weltweiten Finanzsystem beim Einstürzen zusehen. Edward Norton und sein Alter Ego Brad Pitt beobachten durch eine Scheibe, wie Bürotürme von Banken und Kreditkartenfirmen brennend und qualmend auf Ramschniveau zusammensacken. Es sind ihre Anschläge. Wie das alles angefangen hat, weiß niemand so genau. Und auch nicht, wohin das führen soll. "Projekt Chaos" hat ein anarchistisches Eigenleben entwickelt, das sich nicht mehr stoppen lässt. Manchmal kommt es einem so vor, als befinde sich Anonymous derzeit in ähnlicher Situation.

 

Kaum eine Woche, in der Anonymous keine Schlagzeilen macht. Zuletzt verkündete man auf Twitter als Reaktion auf die Stilllegung der Datentauschplattform Megaupload durch das FBI einen "Rachefeldzug". Kurze Zeit später waren die Internetseiten der amerikanischen Bundespolizei und des US-Justizministeriums lahmgelegt. Dahinter steckte eine Destributed-Denial-of-Service-Attacke. Dabei werden Server so lange mit Anfragen überhäuft, bis sie in die Knie gehen. Das ist typisch für Anonymous. Die Wucht der Attacke war diesmal aber noch etwas größer als in der Vergangenheit. Denn um teilzunehmen, genügte es, einen Link zu klicken. Gut möglich, dass über Facebook oder Twitter viele zu Mittätern wurden, obwohl sie bloß neugierig waren. In früheren Fällen musste immerhin noch ein Programm gestartet werden.

Mit echten Hackerangriffen haben Aktionen wie diese eigentlich nichts zu tun. Eher sind sie digitale Sitzblockaden. Ein Mittel, das im Hackerestablishment wie beim Chaos Computer Club als unangemessen und kindisch gilt. Den Sündenfall aber stellt ein prominenter Angriff über Weihnachten dar. Am 24. Dezember 2011 wurde die Website des privaten Nachrichtendienstes Stratfor unter dem Namen Anonymous tatsächlich gehackt - es gab sowohl ein Bekennerschreiben als auch ein Dementi. Die Kundenliste landete im Netz, kopierte Kreditkartendaten wurden dazu benutzt, Geld an Hilfsorganisationen zu überweisen. Die einen sahen darin eine Webguerillaaktion mit Robin-Hood'schen Zügen, andere einen Verstoß gegen die Hackerethik. Die sieht vor, persönliche Daten zu schützen und auf Schwachstellen hinzuweisen.

Digitale Sitzblockaden hält der Chaoscomputerclub für kindisch

Die neue Generation scheint das nicht besonders zu interessieren. Manche Hacker fürchten um den Ruf der ganze Szene. Zumal in der öffentlichen Wahrnehmung meist wenig differenziert wird. Hacker sind Hacker. Und demzufolge ist Anonymous - auch für viele Medien - eine Hackergruppe. Dabei ist Anonymous alles andere als das, schon gar keine Organisation. Eher ist es ein dezentrales Kollektiv, ohne Hierarchie, hervorgegangen aus Foren, in denen sich jeder Anonymous nennt, der seinen Namen nicht preisgeben will. Hinter der einen Aktion könnte ein 17-jähriger Nerd stecken, hinter der anderen politische Aktivisten. Es gibt keine Ortsvereine und keine Pressesprecher. Damit müssen Institutionen wie Sicherheitsbehörden und Presse erst einmal umgehen.

Für John Seidler, Medienwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Verschwörungstheorien an der Uni Rostock, ist die öffentliche Wahrnehmung von Anonymous als Hacker ein Ritterschlag für das Kollektiv. "Der Begriff impliziert traditionell eine Auszeichnung für besondere Problemlösefähigkeiten", sagt er. Anonymous gehe es darum, den Lärm medial so zu verstärken, bis man symbolische Aktionen wie das Lahmlegen von Internetseiten irgendwann mit Realsabotage verwechselt. Sprich: man muss Mastercard ja nicht wirklich zerstören, man muss nur den Eindruck erwecken, man sei in der Lage dazu. Hinzu kommt die Selbstinszenierung als Verschwörung für die gute Sache. "Rebellischer Heldenmythos und entsprechende Rekrutierungsmechanismen stecken da durchaus mit drin", sagt Seidler. Auch, wenn Anonymous-Aktionen häufig in die Kategorie Krawall fielen, schließe das die Funktion einer neuen Form von politischem Aktivismus aber keineswegs aus. "Die Reaktionen der Massenmedien bieten dafür den perfekten Spiegel."

Hinter den Aktionen stehen ernste Absichten

Wird da also eine Spaßguerilla überbewertet? So einfach ist es eben nicht. Denn hinter dem Krach stehen ernste Absichten. So sehen das jedenfalls Andreas Blessau und Maximilian Russ. Sie schreiben ein Blog zu digitaler Protestkultur und halten die Anonymous-Methoden für umstrittener als ihre Ziele. Für sie gehen die Aktionen weit übers Krawallmachen hinaus. "Der Cyberaktivismus nutzt das Netz inzwischen nicht mehr nur für Organisation und Koordination, sondern hat ganz neue Beteiligungsformen geschaffen", sagen die Studenten. Angemessen oder nicht: Anonymous zeigt, wo es im Betriebssystem einer digitalen Gesellschaft noch hakt, zum Beispiel beim Urheberrecht - und politisiert Menschen, die als politikfern gelten.

IT-Sicherheitsexperten haben da einen anderen, einen nüchternen Blick: "So ein Angriff ist in jedem Fall eine Straftat", sagt Thorsten Henkel vom Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie in Darmstadt. "Niemand kann zurzeit genau sagen wer oder was sich hinter Anonymous verbirgt. Die Aktionen richten sich aber gezielt gegen bestimmte Organisationen oder Personen und erhalten somit immer mehr die Qualität eines APTs", sagt Henkel. Als APT, Advanced Persistent Threat, bezeichnen Sicherheitsexperten andauernde Bedrohungen. Dem Kollektiv Anonymous dürfte das nur recht sein. Ganz nach dem eigenen Motto: "Erwartet uns!"

Ursprünge und der Weg auf die Straße

Beginn Zum ersten Mal bekam Anonymous weltweite Aufmerksamkeit mit einer Aktionen gegen Scientology. Die Sekte hatte ein Werbevideo mit dem US-Schauspieler Tom Cruise von der Videoplattform YouTube entfernen lassen. Anonymous attackierte daraufhin Internetseiten von Scientology und rief mit einer Videobotschaft zum "Krieg gegen Scientology“ auf. Der Protest verlagerte sich auch auf die Straße.

Symbol Eine Maske ist zum Markenzeichen von Anonymous geworden. Sie ist Guy Fawkes nachempfunden, dem Anführer einer britischen Verschwörung aus dem 17. Jahrhundert. Der Comic „V wie Vendetta“ machte die Maske berühmt. Auch bei den weltweiten „Occupy“-Protesten wird sie von vielen Demonstranten getragen.

Deutschland Ende 2011 startete Anonymous die Operation "Blitzkrieg". Dabei wurden auf dem Portal "Nazi-Leaks" Listen mit NPD-Anhängern, Versandhäusern der Szene und E-Mails veröffentlicht.