Ein Holztragwerk der Universität Stuttgart ist nur vier Zentimeter dick und dennoch stabil. Bei Schnee oder Sturm wird es verformt, um die Spannungen abzuführen.

Stuttgart - Mit leichtem Flügelschlag setzt sich die Holzschale in Bewegung. Nicht ganz nach der Art eines Schmetterlings, auf jeden Fall aber ungewöhnlich für ein stabiles Holzdach. „Es ist das erste adaptive Schalentragwerk der Welt“, sagt Werner Sobek vom Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK) der Universität Stuttgart. Adaptiv bedeutet hier, dass die Kuppelkonstruktion sich auf Belastungen wie etwa Wind oder Schneeauflage aktiv einstellen kann. Dadurch kann die Dicke der gewölbten Schale mit nur vier Zentimetern besonders dünn ausfallen. Das ist Weltrekord.

 

Sobek spricht von Ultraleichtbau. Ein Vergleich macht dies deutlich: Eine Betondecke wiegt rund eine Tonne pro Quadratmeter Fläche, eine gewölbte Schalenkonstruktion noch eine Vierteltonne, und dem Holzdach des ILEK reichen weniger als 20 Kilogramm pro Quadratmeter, sagt Projektleiter Stefan Neuhäuser vom ILEK. Das macht die Gesamtstruktur zu einem filigranen, architektonisch ansprechenden Tragwerk. Von Weitem mutet die Holzschale wie ein luftiges Partyzelt an. Aus der Nähe betrachtet fallen die vier mächtigen Verankerungen auf: Drei davon sind Hydraulikzylinder, am vierten Punkt ist das Dach beweglich verankert. Über diese Punkte ist die rund 1,4 Tonnen schwere Holzschale aufgespannt. Sie bedeckt eine Fläche von zehn mal zehn Metern. Zerren Wind und Wetter an der Hülle, bilden sich Verspannungen in der Holzschale. Ohne die adaptiven Elemente würde die Schale irgendwann zusammenbrechen, erklärt Christoph Witte. Der Architekt vom ILEK hat die Konstruktion entworfen. Die Hydraulikzylinder halten das Tragwerk indes immer im sicheren Bereich: Sie verbiegen ihrerseits das Schalenwerk leicht, so dass Spannungen abgeführt werden.

Dächer sind meist dick, um einem Sturm stand zu halten

In 14 Stellen der Schale haben Forscher um Oliver Sawodny vom Institut für Systemdynamik (ISYS) der Universität Stuttgart Dehnmessstreifen angebracht. Diese Streifen messen über minimale Längenänderungen die Verspannungen der Holzschale. Gemeinsam mit dem Unternehmen Bosch Rexroth in Lohr am Main haben die Maschinenbauer vom ISYS die Steuerung der drei Hydraulikzylinder entwickelt.

Die Forscher unterscheiden Regen und Schnee als statische sowie Wind und Böen als dynamische Belastungsfälle. Bei der Inbetriebnahme demonstrierte Projektleiter Stefan Neuhäuser, wie die Kuppel auf solche Fälle reagiert: So können die drei Hydraulikzylinder das Holzdach leicht hin- und herdrehen oder zu einem Flügelschlag verbiegen. Die Elektronik wertet die Verspannungen im Holz innerhalb weniger Millisekunden aus, so dass alle Bewegungen ausbalanciert werden können.

Tragwerke müssen immer für die Spitzenlasten – von Sturm bis Schnee – ausgelegt werden, sagt Sobek. Die meiste Zeit seien diese vorgehaltenen Leistungsreserven – üblicherweise sind das dicke Decken und mächtige Konstruktionen – aber gar nicht nötig. Aktive Schalenkonstruktionen wie das Holztragwerk, das Sobek „Stuttgart Smart Shell“ (intelligente Schale) nennt, ermöglichen neue Wege im Leichtbau: Das Tragwerk kann filigran ausfallen, und bei Belastungen fängt die Konstruktion über die Hydraulik die Spannungen auf.

Noch funktioniert die Steuerung nur am Computer

Vergangenen Monat haben die Uniforscher sowie Mitarbeiter von Bosch Rexroth und weiterer Firmen das Tragwerk errichtet und die Holzschale zusammengesetzt. Sie besteht aus mehr als dreitausend Einzelteilen. In vier Lagen sind überkreuz bis zu drei Meter lange und fünf Zentimeter breite Fichtenstäbe ineinandergefügt und verleimt. Die Gesamtlänge aller Stäbe beträgt immerhin mehr als acht Kilometer. Wegen der Kuppelform des Tragwerks mussten die Einzelstäbe hochgenau in eine leicht gekrümmte Form gebracht werden – wie extrem lang geschnittene Apfelsinenschalen, erklärt Stefan Neuhäuser.

Mit dem Bau der rund eine Million Euro teuren Experimentalkuppel auf dem Stuttgarter Campus in Vaihingen wollen die Forscher nun das Verhalten solcher adaptiven Tragwerkskonstruktion in der Realität untersuchen. Bislang funktioniert der adaptive Spannungsausgleich nur im Computer. Bis ein solches ultraleichtes Holzschalendach einmal ein Stadion oder ein Bürogebäude überdachen wird, dürften noch viele Jahre vergehen. Die zahlreichen Neubauten von Sportanlagen für olympische und andere Wettbewerbe zeigen den beteiligten Forschern aber, dass ein großes Interesse an innovativen Tragwerken vorhanden ist.